Anfang August hat die Aktion “Wahre Kosten” von Penny für viel Aufsehen gesorgt. Insbesondere in den Sozialen Netzwerken wurden viele Fragen gestellt. Progressive Agrarwende hat der wissenschaftlichen Leiterin des Projektes, Dr. Amelie Michalke, und dem wissenschaftlichen Mitarbeiter, Lennart Stein, sechs häufig formulierte Fragen zu dem Thema gestellt.
Die Aktion “Wahre Kosten” des REWE Group Unternehmens “Penny” in Kooperation mit Forschenden der Universität Greifswald und der Technischen Hochschule Nürnberg hat in den Sozialen Netzwerken viel Kritik und Unverständnis hervorgerufen. Moritz Fritschle ist daraufhin im Beitrag “‘Wahre Preise’ für landwirtschaftliche Erzeugnisse – Hat sich REWE verkalkuliert?” auf dem Blog der Progressiven Agrarwende (PAW) auf einige Kritikpunkte und mögliche Missverständnisse eingegangen. Doch einige Fragen sind offen geblieben. Da sich das Öko-Progressive Netzwerk als Wissenschaftskommunikations- und Dialogplattform versteht, lag ein direkter Austausch mit den Autor:innen nahe, die an den Studien mitgearbeitet haben, die der “Wahre Kosten” Aktion zugrunde liegen.
Wir freuen uns, dass die Wissenschaftlichen Mitarbeitenden Dr. Amelie Michalke und Lennart Stein von der Universität Greifswald Zeit gefunden haben, gemeinsam mit uns in einem Gastbeitrag sechs “Frequently Asked Questions” auf den Grund zu gehen.
Prof. Tobias Gaugler (TH Nürnberg) und Dr. Amelie Michalke (Universität Greifswald) sind die wissenschaftlichen Leiter:innen des Projektes “Wahre Kosten”, das in Kooperation mit dem Lebensmittel-Discounter Penny durchgeführt wurde. ©Felix Hirschberg
Warum sind Bioprodukte bei den “Wahren Preisen” günstiger, obwohl sie geringere Erträge auf gleicher Anbaufläche erbringen?
In der Modellierung der Produktionsprozesse berücksichtigen wir einige Unterschiede zwischen den Produktionspraktiken der ökologischen und der konventionellen Landwirtschaft. Beeinflussend ist dabei – wie hier beschrieben – der Unterschied des Ertrags, welchen wir mit Hilfe einer großen Literaturanalyse innerhalb verschiedener Szenarien abbilden. Auch unterscheiden sich der Gebrauch von synthetischen Düngemitteln (einige Substanzen sind zur Verwendung im Bio-Landbau verboten), sowie Wirtschaftsdüngern (dessen Modellierung auf Basis der Viehbesatzdichte wir aus der zugrunde liegenden Datenbank übernommen haben, auch vor dem Hintergrund, dass wir das “durchschnittliche” deutsche Produkt modellieren). Des Weiteren schließen wir alle Substanzen des Pflanzenschutzes aus, die entsprechend der EU-Ökoverordnung im Bio-Landbau nicht erlaubt sind. Aus diesen Differenzen ergibt sich letztlich dann auch der ökologische Unterschied, welcher in verschiedenen Wirkkategorien unterschiedlich ausfällt. So schneidet das Bio-Produkt innerhalb der Kategorien, die bspw. die Landnutzung betreffen (wie agricultural land occupation), logischerweise schlechter ab, während in anderen Kategorien die positiven Aspekte des Bio-Anbaus seine Ertragseinbußen wettmachen. Aufgrund der Normierung auf eine monetäre Einheit – den Euro – können wir dann einen Vergleich über alle diese ökologischen Wirkkategorien ziehen und sehen, dass letztlich der Ertrag den Unterschied der beiden Produktionsweisen zwar schmälert, aber dennoch Bio-Produkte geringere ökologische Folgen haben. Dazu sollte ebenfalls gesagt sein, dass innerhalb der Lebenszyklusanalyse (LCA) ausschließlich negative ökologische Faktoren Eingang finden, nicht aber positive wie die Bereitstellung von Ökosystemdienstleistungen. Diese Erweiterung des Systems könnte den Unterschied zugunsten der Bio-Produkte ausbauen, denn Aspekte wie die Bodenqualität, Humusaufbau oder die Kohlenstoffbindung scheinen im biologischen Anbau eine größere Bedeutung zu haben (Reganold & Wachter, 2016; Boone et al. 2019; Krause et al. 2022).
Ihr beschreibt in der Studie Michalke et al. (2023), dass die Umweltkosten für “Cradle-to-Farmgate” berücksichtigt werden, also die Kosten die von der Anpflanzung bis zur Versand der Produkte an den Weiterverarbeiter oder Händler anfallen. Wurden bei der Aktion mit Penny auch nur die Kosten von “Cradle-to-Farmgate” berücksichtigt?
Die Berechnungen der “Penny”-Produkte wurden auf Basis der veröffentlichten wissenschaftlichen Studie Michalke et al. (2023) erstellt und dann um Schritte der Transporte und Verarbeitung erweitert. Somit gehen diese Berechnungen über das „Farmgate“ hinaus. Dies wird in allen FAQs und auf den Seiten der Universitäten beschrieben, leider ist diese Systemerweiterung in der öffentlichen Kommunikation allerdings etwas untergegangen. So heißt es beispielsweise in den FAQs: „Dabei werden alle Prozesse betrachtet, die bis hin zur Prozessierung der Produkte stattfinden – beim veganen Schnitzel zum Beispiel der Prozess, der aus Weizeneiweiß ein Schnitzel macht.“. Die Systemgrenzen liegen also für die “Penny”-Kampagne bei “cradle to processing gate” (also z.dt. vom Acker bis zum Fabriktor, die das Produkt verarbeitet); die vor allem energetischen Aufwendungen im Markt sowie des häuslichen Transports oder der Verarbeitung sind allerdings ausgenommen. Die Erweiterung der Verarbeitungs- und Transportschritte “beyond farm gate” beruhen auf Modellen der Datenbank Agribalyse (Colomb et al., 2015). Wir haben hierbei nicht zwischen biologischer und konventioneller Verarbeitung unterschieden, sondern diese Schritte als identisch angenommen. Die Erweiterungen der Systemgrenzen von Michalke et al. (2023), die für die “Wahre Kosten”-Kampagne durchgeführt wurden, werden in dem zukünftigen Paper zur Kampagne detailliert beschrieben.
Werdet ihr von Penny für die Forschung bezahlt?
Wie unserer Transparenzdarstellung (Gaugler & Michalke, 2023) zu entnehmen ist, haben wir von Penny keine Entlohnung für die Erarbeitung und Begleitung der Kampagne erhalten. Die Kampagne ist innerhalb zweier öffentlich finanzierter Projekte entstanden: Das Forschungsprojekt HoMaBiLe (“How much is the dish?“ – Maßnahmen zur Erhöhung der Biodiversität durch True Cost Accounting bei Lebensmitteln) wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Es ist verankert in der BMBF-Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) und hat eine Laufzeit von 2020 bis 2024. Weitere Informationen findet ihr außerdem unter dem Förderkennzeichen 01UT2108 auf der Webseite der FEdA. Darüber hinaus werden Mitarbeitende, die am Projekt beteiligt sind, von dem europäischen Projekt FOODCoST finanziert, welches im Rahmen der HORIZON Projekte von der europäischen Kommission gefördert wird. Dieses Projekt hat eine Laufzeit von 2022 bis 2026. Weitere Informationen finden sich auf der Website FOODCoST. Der im Rahmen der Berechnung der “Wahren Kosten” anfallende zusätzliche Arbeitsaufwand wurde von Penny im Rahmen eines Forschungsprojektes ausgeglichen. Dieser ist zum Beispiel durch den Einsatz von unterstützenden wissenschaftlichen Hilfskräften angefallen. Aus diesem Grund haben wir auch einen eigenen Kommunikationspfad über unsere Landingpage http://www.wahre-preise.com/start/ erarbeitet und kommunizieren die wissenschaftliche Perspektive weitgehend von Penny entkoppelt.
Warum werden die positiven Leistungen der Landwirtschaft, also beispielsweise die Bereitstellung von Ökosystemdienstleistungen, nicht mit eingepreist?
In unserer derzeitigen Methodik betrachten wir nur negative Folgekosten, also Schäden, die während der Produktion von Lebensmittel entstehen. Dass es auch positive Effekte, also einen Nutzen für die Gesellschaft gibt, ist natürlich nicht zu ignorieren. Dies ist eine klare Limitation der LCA Methodik und wird auch im wissenschaftlichen Konsens als solche beschrieben (van der Wilde & Newell, 2021). Es gibt jedoch Ansätze, die eine solche Integration auf die eine oder andere Weise vorschlagen (Alejandre et al., 2019; Boone et al., 2019), breite Anwendung finden diese Methoden allerdings noch nicht. Unserer Ansicht nach ist es dringend notwendig, Ökosystemdienstleistungen (z.B. CO2-Speicherung im Boden oder Maßnahmen zum Biodiversitätsschutz) in eine solche Kalkulation zu integrieren und so auch Nachhaltigkeitsleistungen zu bilanzieren, wie es zum Beispiel das Sustainable Performance Accounting (SPA) vormacht (Walkiewicz et al., 2021). Wie in der Antwort auf die erste Frage beschrieben, zeigen wissenschaftliche Studien, dass der Einbezug von positiven Externalitäten insbesondere zu Gunsten von ökologischer Landwirtschaft ausfällt (Seufert & Ramankutty, 2017; Reganold & Wachter, 2016).
Sind die Kosten, die mit der Methodik True Cost Accounting (TCA) berechnet werden, die genauen Kosten, die bei jedem Landwirt entstehen?
Nein, nicht genau. Zunächst, wie in der Antwort auf Frage 2 beschrieben, werden hier Kosten der gesamten Produktionskette berechnet, also nicht nur jene, die während der landwirtschaftlichen Produktion entstehen. Außerdem ist “genaue Kosten”, “True Cost” oder “Wahre Preise” auch wirklich in Anführungszeichen zu lesen. Zunächst ist die Realität natürlich nicht modellierbar und naturwissenschaftliche Modelle der LCA von landwirtschaftlichen Prozessen unterliegen Unsicherheiten, Annahmen und Limitationen – ebenso die Schadenskostensätze, welche zur Bewertung der gesellschaftlichen Kosten durch ökologische Schäden verwendet werden. Dennoch empfinden wir es als wichtig, den Status Quo der Preissetzung, welcher so genannte Externalitäten (also soziale und ökologische Folgekosten) in keiner Weise berücksichtigt (es liegt rein ökonomisch betrachtet also ein Marktfehler vor) und somit noch weniger “wahr” oder “true” oder “genau” ist, zu hinterfragen. Mit einer solchen Berechnung kann zumindest ein wichtiger Schritt in Richtung Wirklichkeit und damit verbundener Transparenz erfolgen.
Es sollte dabei aber stets diskutiert werden, wem die Kosten anzulasten sind. Aus unserer Sicht ist es nicht zielgerichtet, diese “Wahren Kosten” im Verkauf den Konsument:innen eins zu eins zu berechnen und auf alle Produkte am Ende der Wertschöpfungskette aufzuschlagen. Dadurch würden bestimmte Lebensmittel zu Luxusgütern werden, was keiner sozialgerechten Form entspräche und zudem dem Polluter Pays Principle (z. dt. Verursacherprinzip) widerspricht. Auch sollten die Kosten nicht von Landwirt:innen beglichen werden. Vielmehr sehen wir es als Pflicht der Politik, Steuerungs- und Förderungsmaßnahmen zu erarbeiten, die eine nachhaltige Produktion lohnend machen und so ökologische Schäden von vornherein vermieden werden können. An dieser Stelle bedarf es folglich sowohl positiver als auch negativer Anreizsetzung, die es zukünftig ermöglichen sollen, Agrar- und Ernährungssystems zu schaffen, die sich für die Landwirtschaft lohnen, im Einklang mit den planetaren Grenzen stehen und gleichzeitig die globale Ernährungssicherheit gewährleisten.
Die in dieser Kampagne aufgezeigten Kosten sollen somit als Transparenz- und Kommunikationstool dienen, um klar zu machen, dass wir alle schon jetzt Kosten tragen müssen, ohne uns im Detail darüber im Klaren zu sein wofür und wieso. Natürlich sind auch hier Einzelhändler:innen in der Pflicht, sich nicht nur schlaglichtartig und reaktionär für Preistransparenz einzusetzen, sondern die Implikationen daraus in ihre unternehmerischen Strategien einfließen zu lassen.
Wo sind die Schwächen des True Cost Accounting und wo sind die Stärken? Gibt es Alternativen zur Berechnung von Kosten?
True Cost Accounting (TCA) eröffnet ein breites Spektrum an Potenzialen, es sind jedoch gleichzeitig Herausforderungen nicht zu übersehen. Innerhalb des Finanzsektors erweist sich TCA als ein effektives Kommunikationsmittel. Es ermöglicht beispielsweise Transparenz hinsichtlich der Lieferketten. Die monetäre Bewertung ökologischer Schäden über Emissionen hinaus, insbesondere im Hinblick auf die planetarischen Grenzen, eröffnet neue Wege zur Abschätzung von Umweltauswirkungen und trägt zu einer ganzheitlichen ökonomischen Betrachtung bei. TCA ist zudem kompatibel mit bestehenden Rahmenwerken und trägt zur Quantifizierung des Verursacherprinzips bei. Die Integration ökologischer und sozialer Kosten in die Definition von Gewinn ermöglicht eine umfassendere Bewertung unternehmerischer Aktivitäten.
Die Variabilität in den Herangehensweisen bei der Anwendung von TCA zeigt auf, dass weitere Verbesserungen vonnöten sind, bevor eine Einführung als allgemeine Maßnahme sinnvoll ist. Die Verfügbarkeit von Primärdaten (z.B. die exakten Daten von einem Landwirtschaftsbetrieb oder eines Transportwegs) könnte in manchen Fällen eine umfassende Umsetzung erschweren, während Sekundärdaten (durchschnittliche Daten) aufgrund von Verallgemeinerungen in der Datenerfassung an Genauigkeit verlieren könnten. Auch fehlt es bisher an formalrechtlichem Druck und einer klaren Struktur zur Realisierung einer sozio-ökologisch gerechten Buchführung. Diese Lücke könnte sowohl politische, wirtschaftliche als auch öffentliche Bereiche betreffen und erfordert eine umfassendere Betrachtung und Formalisierung. Ein weiterer Aspekt liegt in der Verwendung von TCA als Kommunikations- und Transparenzinstrument für Verbraucher:innen. Es ermöglicht Vergleichbarkeit von Produktionsprozessen und trägt zur Steigerung des Verbraucher:innenwissens bei. Dies könnte dazu führen, dass die Wissens-Handlungs-Lücke verringert wird und Verbraucher:innen vermehrt umweltfreundlichere Optionen wählen. Es muss jedoch darauf geachtet werden, dass dieses Instrument verständlich und standardisiert umgesetzt wird, da unterschiedliche und potenziell intransparente Standards zu einer Verwirrung der Verbraucher:innen führen und das Phänomen des ‚Greenwashing‘ verstärken könnten. Außerdem ist eine sozialverträgliche Implementierung von True Cost Accounting unumgänglich.
Insgesamt zeigt sich, dass die Umsetzung von TCA ein vielversprechender Schritt in Richtung einer ganzheitlichen ökologischen und sozialen Bewertung von wirtschaftlichen Aktivitäten ist. Dennoch sind sorgfältige Überlegungen und Anpassungen erforderlich, um das volle Potenzial von TCA auszuschöpfen und gleichzeitig mögliche Herausforderungen zu bewältigen. (Michalke et al., 2022)
Quellen:
Alejandre, E. M., van Bodegom, P. M., & Guinée, J. B. (2019). Towards an optimal coverage of ecosystem services in LCA. Journal of cleaner production, 231, 714-722.
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Colomb, V., Ait-Amar, S., Basset-Mens, C., Gac, A., Gaillard, G., Koch, P., Mousset, J., Salou, T., Tailleur, A. & Van Der Werf, H. (2015). AGRIBALYSE®, the French LCI Database for agricultural products: high quality data for producers and environmental labeling. Oilseeds and fats, Crops and Lipids, 22(1), D104.
Fritschle, M. (2023). “Wahre Preise” für landwirtschaftliche Erzeugnisse – Hat sich REWE verkalkuliert? Progressive Agrarwende. https://progressive-agrarwende.org/wahre-preise-bei-penny/
Gaugler, T. & Michalke, A. Transparenzdarstellung. – kurze Version – (2023). Online verfügbar unter: http://www.wahre-preise.com/Presseordner/
Krause, H. M., Stehle, B., Mayer, J., Mayer, M., Steffens, M., Mäder, P., & Fliessbach, A. (2022). Biological soil quality and soil organic carbon change in biodynamic, organic, and conventional farming systems after 42 years. Agronomy for Sustainable Development, 42(6), 117.
Michalke, A., Stein, L., Fichtner, R., Gaugler, T., & Stoll-Kleemann, S. (2022). True cost accounting in agri-food networks: A German case study on informational campaigning and responsible implementation. Sustainability Science, 17(6), 2269-2285.
Michalke, A., Köhler, S., Messmann, L., Thorenz, A., Tuma, A., & Gaugler, T. (2023). True cost accounting of organic and conventional food production. Journal of Cleaner Production, 408, 137134.
Reganold, J. P., & Wachter, J. M. (2016). Organic agriculture in the twenty-first century. Nature plants, 2(2), 1-8.
Seufert, V., & Ramankutty, N. (2017). Many shades of gray—The context-dependent performance of organic agriculture. Science advances, 3(3), e1602638.
Van der Wilde, C. P., & Newell, J. P. (2021). Ecosystem services and life cycle assessment: A bibliometric review. Resources, Conservation and Recycling, 169, 105461.
Walkiewicz, J., Lay-Kumar, J., & Herzig, C. (2021). The integration of sustainability and externalities into the “corporate DNA”: A practice-oriented approach. Corporate Governance: The International Journal of Business in Society, 21(3), 479-496.
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