Warum es herausfordernd ist, Forschung an Nischenkulturen zu betreiben – und warum es sich trotzdem lohnt.
Warum es sich lohnt, an orphan crops zu forschen
Wenn wir über Landwirtschaft und speziell über Pflanzenbau sprechen, dann haben wir meist goldene Weizen-, Roggen- oder Maisfelder im Kopf, vielleicht denken wir auch an Gewächshäuser mit Tomaten oder das alljährliche Erdbeerfeld. Seltener haben wir vor Augen (und wahrscheinlich haben wir es auch noch nie gesehen), wie für uns neuere Nahrungsmittel wie Quinoa, Maniok oder Yams im Anbau aussehen. Diese Nischenkulturen rücken, durch die Globalisierung des Ernährungsangebots und teilweise auch durch Ernährungstrends, inzwischen mehr in den Fokus.
Nischenkulturen oder orphan crops (engl. “verwaiste Kulturen”) sind Nutzpflanzen jeglicher Art, ob Gemüse, Getreide, Knollenpflanzen oder Nüsse, die in Züchtung und Forschung bisher eine eher untergeordnete bis gar keine Rolle gespielt haben.
Klar ist: orphan crops können und sollen die gängigen cash crops nicht ersetzen. Zumindest nicht in den nächsten Jahrzehnten und sicherlich nicht überall. In den letzten 10,000 Jahren, nochmal beschleunigt durch die sogenannte Grüne Revolution im 20. Jahrhundert, wurden unsere heutigen cash crops zu Hochleistungspflanzen gezüchtet, die oft nur noch wenig mit ihren wilden Vorfahren gemein haben. Es wäre naiv zu glauben, dass die Nischenkulturen (trotz moderner und präziser Zuchtmöglichkeiten) in naher Zukunft an die Leistung dieser Sorten aufschließen könnten. Aber auch klar ist: orphan crops haben global eine hohe regionale Relevanz, denn sie können in vielen Ländern eine an den lokalen Standort und die Klimaveränderungen besser angepasste Landwirtschaft ermöglichen. Und zusätzlich eröffnen sie das Potential für neue Nischenprodukte und können so unser aller Ernährung bereichern. Damit die Landwirtschaft auf lange Sicht diverser und resilienter wird, ist es daher in jedem Fall lohnenswert, sich mit orphan crops zu beschäftigen und die Forschung an ihnen in die Wege zu leiten.
Mehr Vielfalt: viele Vorteile
Der Klimawandel führt zu immer unbeständigeren, aber stetig heißeren und trockeneren Sommern und die Anbaufähigkeit der cash crops verschiebt sich immer weiter in Richtung der Pole1. Die Landwirtschaft muss sich diesen Veränderungen mit neuen Ideen entgegenstellen. Eine wichtige Maßnahme ist es, die Diversität der Nutzpflanzen zu erhöhen. Dabei geht es um mehrere Aspekte: zum einen ist die landwirtschaftliche Produktion auf nationaler Ebene stabiler, wenn nicht auf wenige, sondern auf viele verschiedene Pflanzen gesetzt wird2. Lokal betrachtet, kann eine Diversifizierung von Fruchtfolgen oder das Konzept von Inter-cropping, einen agronomischen Vorteil mit Bezug auf Ertrag oder Ressourcennutzung bringen3. Zum anderen haben die neu ein- oder wiedereingebrachten Kulturen Zukunftspotential für neue Produkte. Viele von ihnen, wie Hirse oder Yams, brauchen wenig Wasser und/oder mögen die trockenen Sommer. Klar ist aber auch, dass für Nischenkulturen neben dem reinen Anbau auch Erntemethoden, Lagerung, Saatgutvermehrung, Vermarktung etc. etabliert werden müssen. Klingt dies im ersten Moment nach zu viel Aufwand, schafft es aber gleichzeitig neues Knowhow.
Zum anderen führt mehr Diversität auf den Feldern zu weniger Abhängigkeiten. Wenn Forschung und damit Züchtung von Nischenkulturen weiter vorangebracht werden und im globalen Austausch auf Augenhöhe die Wissensbasis stärken, können Abhängigkeiten von Lebensmittelimporten reduziert werden. Dafür benötigt es aber noch weitere Änderungen im politischen und wirtschaftlichen Raum, welcher Lebensmittelpreise und Landbesitzverhältnisse beeinflusst. Durch eine vielfältige, nachhaltige und pflanzenbasierte Landwirtschaft (auch mit vermindertem Fleischkonsum), können wir weitgehend autark bleiben und uns weniger anfällig für weltpolitische Katastrophen machen.
Vorteile für die Ernährung
Ein weiterer wichtiger Punkt, der für einen vermehrten Anbau von Nischenkulturen spricht, ist unsere Ernährung und Gesundheit. Mangelernährung ist ein globales Problem, das Millionen von Menschen betrifft. Als eine der Hauptursachen gilt eine unausgewogene und ungesunde Ernährung. Neben verschiedenen sozioökonomischen Aspekten wird eine diverse, nährstoffreiche und pflanzenbasierte Ernährung als ein wichtiger Lösungsansatz diskutiert14. Eine höhere Vielfalt in unserer Ernährung ist daher ein wichtiger Schritt für eine nachhaltige Zukunft. Eine regional diverse Landwirtschaft auf unseren Feldern schafft ein höheres Bewusstsein für vielfältige Lebensmittel in der Bevölkerung und schafft zum anderen automatisch einen Trend hin zu einer vielfältigeren und ausgewogeneren Ernährung. Viele orphan crops enthalten zudem Inhaltsstoffe, die nachweislich gesundheitsfördernd sind und z.B. vor Krebs, Herzkreislauferkrankungen und Diabetes schützen (hier könnten wir unser Review zitieren). Ein paar Zahlen verdeutlichen diese Relevanz: In Europa leiden schätzungsweise über 60 Millionen Menschen an Diabetes und dadurch verursachten Kosten für das Gesundheitssystem belaufen sich auf etwa 190 Milliarden USD (IDF Diabetes Atlas 2021 – 10th edition, www.diabetesatlas.org). Ein Großteil der Typ2 Diabetes-Fälle und der damit verbundenen Kosten ließen sich u.a. durch eine gesündere und vielfältigere Ernährung reduzieren.
Vielfalt für die Forschung
Zuletzt gilt es zu erwähnen, dass es natürlich auch für die Grundlagenforschung einen Vorteil hat, an orphan crops zu forschen. Wenn wir Pflanzen an sich verstehen wollen, reicht es nicht aus, sich nur und ausschließlich mit Modell-Pflanzen wie der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) zu beschäftigen. Neben der schier unendlichen Bandbreite an biochemischen Verbindungen, die die verschiedenen Pflanzen produzieren, ist es auch die Physiologie, die sich unterscheidet. Zum Beispiel gehört der unscheinbare Ackerschmalwand zu einer Gruppe von Pflanzen, die nicht in der Lage sind, stärkehaltige Speicherorgane zu entwickeln. Wenn wir also die Physiologie von Pflanzen wie Kartoffeln, Yams, Süßkartoffeln oder Maniok verstehen wollen, werden wir die Grundlagen dazu nicht in Arabidopsis finden, sondern wir müssen in die Kulturpflanzen selbst schauen. Ein anderes Beispiel ist die Erfolgsgeschichte der Nischenpflanze Löwenzahn, welcher als alternative Quelle für Kautschuk erfolgreich etabliert wird. 2021 wurden die ForscherInnen für dieses Projekt für den Deutschen Zukunftspreis nominiert. Der Kautschuk wird im Löwenzahn in latex-produzierenden Zellen, so genannten Laticiferen produziert, einem Zelltyp, der in Arabidopsis (und anderen Modellpflanzen) gar nicht existiert.
Je mehr wir an orphan crops forschen, desto eher können wir auch für diese Pflanzen Modelle entwickeln, mit denen wir grundlegende physiologische Vorgänge erforschen und verstehen können. Immer wieder treffen wir bei den existierenden Modellpflanzen an die Grenzen der Vielfalt und wir tun gut daran, mehr Modellpflanzen zu etablieren, um umfassende Forschung zu betreiben. Dazu zählen umfassende Analysen der Inhaltsstoffe (sog. “omics”, also Genomics, Metabolomics usw.), aber auch reproduzierbare und standardisierte Laborbedingungen und Protokolle. Neben dem praktischen Nutzen, die die Forschung an orphan crops in spezifischen Fällen hat, bringt sie uns letztendlich auch einen reinen Erkenntnisgewinn, denn Forschungsvielfalt in der Welt der Pflanzen hilft uns, die Natur dieser Wesen zu verstehen.
Auch die Politik hat das Potential der Nischenkulturen erkannt. Die Bundesregierung und auch die EU haben in den letzten Jahren die orphan crops ins Boot geholt und diese in einer Reihe von Ausschreibungen für Forschungsförderung explizit mit aufgenommen.
Nischenkulturen als Lösung für eine nachhaltige, gesunde Landwirtschaft der Zukunft – ist das wirklich so einfach?
Dabei geht es eben nicht nur um ältere, in der heutigen Landwirtschaft weniger verwendete Getreidesorten wie Emmer, sondern vor allem auch um bis heute wichtige Grundnahrungsmittel in anderen Ländern und Regionen, wie Indien, Afrika oder Südamerika. Das bestehende globale Gefälle in Bezug auf monetären Reichtum und den damit verbundenen technologischen Möglichkeiten hat auch hier Auswirkungen. So sind die züchterischen Möglichkeiten, die biologischen wie genetischen Ressourcen und das Wissen bei den sogenannten cash crops wie Weizen, Mais und Soja viel weiter fortgeschritten als bei Maniok, Hirse oder Yams, die in der westlichen Ernährung bisher eine eher untergeordnete Rolle spielen.
Besonders anschaulich wird das im Vergleich von Kartoffel mit anderen Stärkeknollen wie Maniok und Yams, deren weltweite Produktionsmenge mit 359.071.403 bzw. zusammen 377.489.728 Tonnen4 zwar auf ähnlichem Niveau wie die der Kartoffel ist, deren Forschungsstand aber weit auseinander liegt. Während man bei der vorwiegend in Europa und Asien angebauten Kartoffell5 sowohl über umfangreiche technische Ressourcen in Bezug auf Anbau und Züchtung als auch über biologisches Wissen verfügt, steckt die Forschung bei Yams und Maniok noch in ihren Anfängen.
Also, was gibt es neben der Ausweitung von technischem, biologischem und ackerbaulichem Wissen auf Nutzpflanzen, die in westlichen Ländern nicht im Fokus stehen – was ja an sich schon sehr gute Gründe sind – noch für Argumente für mehr Forschung an orphan crops?
Wir brauchen wieder mehr Vielfalt
Gehen wir wieder zurück zu dem Bild von Landwirtschaft, das uns hier meist draußen oder in den Nachrichten begegnet. Immer häufiger wird dieses Bild von vertrockneten Feldern oder zerstörten Ernten durch Fluten geprägt – verursacht durch den Klimawandel. Dieses Bild ist nicht nur subjektiv, sondern auch wissenschaftlich quantifizierbar und wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zukunft nicht bessern, sollten die Anpassungen der Landwirtschaft nicht ausgeweitet werden, so der aktuelle IPCC Bericht6. Dort und auch an anderen Stellen, die sich wissenschaftlich damit auseinander gesetzt haben7, wie wir dem Klimawandel begegnen können, wird als eine der Maßnahmen eine Diversifizierung der Nutzpflanzen gefordert. Auf der anderen Seite ist über die letzten Jahrhunderte der Flaschenhals der genetischen Vielfalt der Kulturpflanzen immer enger geworden. Studien gehen davon aus, dass ca. 80.000 Pflanzenarten in der Menschheitsgeschichte genutzt wurden, schätzungsweise 25.000 davon sind essbar und ca. 7000 wurden von Menschen domestiziert oder als Wildpflanzen gesammelt. Trotz dieser vorhandenen Diversität leben die meisten Menschen heute in erster Linie von 30 kultivierten Pflanzen, darunter vor allem Reis, Weizen, Mais, Kartoffeln und Soja. Jetzt stehen wir an einem Wendepunkt und versuchen diese Engstelle zu überwinden, hin zu einer erneuten Diversifizierung.
Unsere heutigen cash crops wurden über Jahrtausende erfolgreich hin zu Hochleistungspflanzen gezüchtet. Dabei standen in erster Linie Produktivität und Ertrag im Vordergrund. Die genetische Vielfalt ist dabei verloren gegangen und mit ihnen diverse Strategien der Stresstoleranz und Abwehr von Schädlingen. Zudem sind durch die Domestizierung qualitative Eigenschaften, wie z.B. die Nährstoffzusammensetzung, oft auf der Strecke geblieben8.
Durch eine Ausweitung der Forschung auf orphan crops kann nicht nur die Diversität auf unseren Äckern wieder erhöht werden, die Erkenntnisse können auch die Züchtung von domestizierten cash crops verbessern. Das in der Regel heterogenere genetische Material von orphan crops oder mit cash crops verwandten Wildpflanzen ermöglicht diesen Pflanzen, flexibler auf Umweltveränderungen zu reagieren und somit resistenter gegenüber Stress wie Wassermangel oder Hitze zu werden9. Man kann also auch etwas aus der Forschung an orphan crops für die Züchtung besser bekannter Nutzpflanzen lernen. Zum Beispiel ist Sorghum bzw. Hirse ein essbares oder für Biogas verwendetes Getreide, das mit wenig Wasser auskommt und gegenüber hohen Temperaturen relativ resilient ist. Im Vergleich zu seinem nahen Verwandten Mais, der im Anbau recht viel Wasser benötigt, ist Hirse aber noch nicht sehr gut erforscht. Erkenntnisse über die Resilienz von Sorghum könnten aber auch für die Züchtung von Mais von Nutzen sein.
Neue Pflanzen für die Landwirtschaft
Gerade für moderne Züchtungsmethoden ist es essentiell, genetische Informationen, sprich genomische Sequenzdaten, von Nutzpflanzen zur Verfügung zu haben. Neue Methoden zur Sequenzierung, also zur digitalen Erfassung des genetischen Codes, machen dies zum Glück immer einfacher – dennoch bleibt hier gerade bei orphan crops noch einiges zu tun. Dieser Aufwand ist aber wichtig, denn die dadurch gewonnene genetische Information kann man für Züchtung nutzen und durch Rückkreuzungsverfahren (Introgression) und moderne Markergenanalyse, aber auch mit Hilfe neuer Züchtungstechnologien wie CRISPR in Kulturpflanzen einbringen. Andersherum können diese Technologien aber auch genutzt werden, um durch sogenannte de novo Domestizierung gezielt Merkmale jahrtausendelanger landwirtschaftlicher Selektion wie Ertrag, Beschaffenheit der Frucht, Reduktion von Bitterstoffen, Größe der Pflanzen etc. in orphan crops einzubringen, ohne deren resilienteren genetischen Hintergrund zu sehr zu beeinflussen. Die de novo Domestizierung von orphan crops kann einen wertvollen Beitrag zur globalen Ernährungssicherung leisten. Unser geringes Wissen über die Genetik dieser Pflanzen und die mangelhaft etablierten Methoden diese genetisch zu verändern, stellen jedoch eine große Herausforderung für die Wissenschaft und für eine erfolgreiche de novo Domestizierung dar10. Und dies ist nur eine von vielen.
Die Herausforderungen
1. Die ersten Schritte: Genetisches Material
Die Forschung an Nischenkulturen ist von einer Fülle an Herausforderung geprägt. Eine davon liegt bereits in der erschwerten Beschaffung von Zuchtlinien oder (Wild)Pflanzen, die für die Forschung eingesetzt werden sollen. Eine Reihe nationaler und internationaler Genbanken verfügen über umfassende und gut charakterisierte Sammlungen etablierter Nutzpflanzen, darunter z.B. die Genbank des IPK Gatersleben mit über 150,000 Akzessionen. Material von weniger etablierten Nutzpflanzen ist zwar verfügbar, aber natürlicherweise unterrepräsentiert und die Herkunft oft unzureichend dokumentiert. Für ein erfolgreiches Forschungsprojekt sollte aber, wenn möglich, auf ausgewählte und im Anbau bewährte Sorten zurückgegriffen werden. Unter Umständen ist daher eine umfangreiche Suche nach geeignetem Material notwendig, bei der Kontakt mit Wissenschaftler:innen, landwirtschaftlichen Organisationen und den Landwirt:innen selbst aufgenommen werden muss. Für die Sammlung des Materials vor Ort, kann es unter Umständen zu langen und kostspieligen (internationalen) Anfahrten kommen. Das erfordert viel Zeit, Netzwerken und oft kulturelle oder sprachliche Barrieren. Das Sammeln sowohl von kultivierten Sorten als auch Wildpflanzen wird zudem dadurch erschwert, dass die Pflanzen oft regional andere Bezeichnungen haben und man das gesammelte Material zunächst der richtigen Art oder Sorte zuordnen muss. Eine Fülle von Trivialnamen bei der Artenbezeichnung erschwert das Vorhaben zusätzlich. Rechtliche Grundlagen zur Forschung und Züchtung an orphan crops liefert, neben dem Nagoya Protokoll, das International Treaty on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture (ITPGRFA) der FAO. Hierin sind die 64 wichtigsten Nahrungspflanzen festgehalten und der globale Zugang zu genetischen Ressourcen reguliert.
2. Im Labor: alles nach Standard
Hat man passendes Pflanzmaterial gefunden, muss es im nächsten Schritt kultiviert und vermehrt werden. Das ist teils aufwendig, da manche Pflanzen wie z.B. Yams oder Maniok vegetativ (so wie Kartoffeln oder auch die Ableger, die Erdbeeren im Garten bilden) und nicht über Saatgut vermehrt werden. Neben der Literaturrecherche über den Anbau der Pflanzen (oft nicht in Englischer Sprache verfügbar), müssen die Kultivierungsbedingungen je nach Forschungsstandort und -umgebung angepasst werden. Das ist leider nicht immer trivial: der Bedarf an Licht, Wasser und Nährstoffen hat einen großen Einfluss auf das Wachstum der Pflanzen und kann unter Umständen die Blütenbildung und Vermehrungsraten beeinflussen. Auch die Lagerung und erfolgreiche Keimung von Saatgut muss etabliert werden. Die Forschung an Nischenkulturen fängt also oft klein an und erfordert manchmal zunächst den berühmten grünen Daumen, bevor die echte Forschung beginnen kann. Erst wenn ideale Wachstumsbedingungen (oft mittels Trial-and-Error-Prinzip) geschaffen wurden, können die Sorten umfassend phänotypisiert, also ihre äußeren Merkmale beschrieben und quantifiziert werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt müssen Merkmale identifiziert und definiert werden, die der Etablierung der Pflanze bisher im Weg standen oder die das (Ertrags)Potential der Pflanze erhöhen könnten. Zu diesem Zeitpunkt machen sich dann die zuvor geschlossenen Kontakte mit den LandwirtInnen bezahlt, die mit den Pflanzen bereits Erfahrung haben und ihre Probleme und ihr Wissen an die Forschenden weitergeben können.
Für molekularbiologische Versuche im Labor müssen etablierte Standardprotokolle u.a für die Extraktion von DNA, Proteinen und Stoffwechselprodukten auf die neue Pflanze abgestimmt und oft zunächst modifiziert werden. Transformationsprotokolle für funktionale Studien müssen oft aufwendig etabliert, Genom- und Transkriptomdaten müssen erstellt und ausgewertet werden. Im Gegensatz zu etablierten Modellpflanzen ist die Datenlage in diesem Bereich meist lückenhaft und erfordert aufwändige Vorarbeiten.
3. Züchtung: Entwicklung von Methoden
Molekularbiologische und physiologische Forschung an Pflanzen generell und insbesondere an orphan crops ist wichtig, um die biologischen Prozesse in der Pflanze und Wechselwirkung mit der Umwelt besser zu verstehen und die Funktionen von Genen, die damit zusammenhängen, besser zu beschreiben. Letztlich können die Ergebnisse hieraus die Grundlage für Züchtung bilden, diese aber nicht ersetzen. Während sich die molekularbiologische Pflanzenforschung in erster Linie dem Verständnis eines Merkmals widmet, geht es in der Züchtung vor allem darum, dieses für die Nutzung zu optimieren. Wenn man z.B. in der Forschung verstehen will, welche Gene und Prozesse für einen bestimmten Knollentyp verantwortlich sind, so hat man in der Züchtung im Fokus, einen bestimmten zu erzeugen. Natürlich ermöglicht ein Zusammenspiel beider Ansätze ein schnelleres Vorankommen in der Züchtung bzw. kann Sortenvielfalt auch zum Verständnis beitragen. Im Fall von orphan crops ist es eben neben der intensivierten Forschung auch wichtig, Züchtungsmethoden zu etablieren, damit Sorten mit optimalen Anbaubedingungen gezüchtet werden können. In einem interdisziplinären Ansatz müssen klare und geeignete Züchtungsziele formuliert werden. Vor allem in der Züchtung von orphan crops, wo Forschung aus Gründen der technischen Infrastruktur nicht im Hauptanbauland stattfindet, ist es wichtig mit Landwirt:nnen und Menschen vor Ort zu sprechen11. Wenn möglich, werden Inzuchtlinien erzeugt und auf positive Merkmale hin selektiert. Über mehrere Generationen entsteht so reinerbiges Material, mit dem sich weitere Studien durchführen lassen. Eine weitere Möglichkeit ist die Erzeugung von sogenannten Mutagenesepopulationen. Durch radioaktive Strahlung, chemische Substanzen etc. lassen sich mehr oder weniger zufällige Mutationen im Erbgut von Pflanzen erzeugen. Die Nachkommen dieser mutagenisierten Pflanzen werden dann katalogisiert und sequenziert, sodass die Veränderungen im Vergleich zum Genom der Ausgangspflanze/ dem Wildtyp aufgelistet werden können. Sind ausreichend Sequenzinformationen der Pflanze bereits vorhanden und das Genom annotiert, kann man Mutationen in Genen entsprechend der katalogisierten Pflanze zuordnen und diese phänotypisch charakterisieren. Solche Populationen werden mehr und mehr erstellt und das Saatgut für Forschungszwecke öffentlich zugänglich gemacht, sodass Forschung an bestimmten Genen auch ohne etablierte in vitro Kultur und gentechnische Methoden möglich ist. Hier ist allerdings die Hürde zu nehmen, dass die Pflanzen zunächst aufwendig mit der Mutterpflanze, d.h. dem nicht-mutagenisierten Wildtyp, rückgekreuzt werden müssen. Dies ist notwendig, um andere entstandene Eigenschaften, die man nicht erforschen will, zu eliminieren und somit eindeutige Genfunktionen aufklären zu können. Wie oben erwähnt sind orphan crops oft per se schon genetisch sehr heterogen, d.h. selbst die Kultursorten haben kaum einheitliches genetisches Material, was Vorteile mitbringt, aber noch zusätzlich die molekularbiologische Arbeit erschwert.
Dank der großen Fortschritte in den Sequenziertechnologien und im Bereich der Bioinformatik ist es heute sehr einfach geworden, das Genom von Pflanzen zu sequenzieren. Auf Plattformen, wie z.B. Phytozome12 sind bereits die Genome von 274 Pflanzenarten hinterlegt. Die Forschung an bisher wenig erforschten Nutzpflanzen wird dadurch immer einfacher und auch kostengünstiger. Genotypisierungen, die eine Präzisionszüchtung erlauben, werden im Hochdurchsatzverfahren möglich.
Gerade im Bereich der Big Data lohnt es sich früh Ressourcen zu bündeln und Netzwerke zu bilden. Da nicht besonders viele Wissenschaftler an Nischenkulturen forschen, ist es gerade in diesem Bereich notwendig, Kräfte zu bündeln und Wissen zu teilen.
Unsere persönliche Motivation als Forscherinnen:
Janina:
In meiner Arbeitsgruppe forschen wir an Yams. Während die Pflanze hierzulande fast unbekannt ist, leben in Westafrika über 300 Millionen Menschen von Yams als Grundnahrungsmittel. Die stärkehaltigen Knollen dieser anspruchslosen Pflanzen sind nahrhaft und gesund und einige von ihnen wachsen ganz wunderbar in Europa, insbesondere bei trockenem und heißem Wetter. Ganz klar eine Pflanze mit Potential für die
Zukunft. Es hat jedoch Jahre in Anspruch genommen bis wir eine Pipeline für die Yams-Forschung aufbauen konnten und sind dabei an vielen der für orphan crops typischen Problemen hängen geblieben: Yam haben einen langen Wachstumszyklus, sie vermehren sich nur vegetativ, es ist fast unmöglich ein miteinander vergleichbares Pflanzgut zu erzeugen oder sie überhaupt in großen Mengen zu vermehren; Laborprotokolle und kommerzielle Kits für Analysen mussten optimiert werden, Transformationsprotokolle waren nicht etabliert. Zudem sind sie genetisch extrem heterogen und auch noch hoch polyploid (enthalten also viele Chromosomensätze, was eine molekularbiologische Arbeit immer erschwert). Hätte ich vorher gewusst, auf was ich mich einlasse, hätte ich mir eine einfachere Pflanze als Forschungsobjekt gesucht. Meine oft frustrierten Mitarbeiterinnen würden das sicher unterschreiben. Andererseits: die harte und frustrierende Arbeit mit Yams wird im internationalen wissenschaftlichen Umfeld sehr geschätzt und hoffentlich dazu beitragen, dass wir in Zukunft Yams auch in Europa erfolgreich und nachhaltig anbauen können. Noch wichtiger: die Erkenntnisse, die wir erarbeiten, können auf tropische Yams übertragen werden und in Zukunft helfen, in den ärmsten Regionen der Welt Menschen vor Mangelernährung und Hunger zu schützen. Vielen Dank an das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das unsere Forschung auch in Zukunft fördert.
Natalie:
Das Getreide Sorghum bicolor ist ein sehr gutes Beispiel für ein orphan crop auf dem besten Weg zur Adoption in die Riege der cash crops. Als bezogen auf Menge und Anbau fünftstärkstes Getreide nach Mais, Weizen, Reis und Gerste werden Sorghumhirsen13 vor allem in den USA, China, Indien und vielen afrikanischen Staaten angebaut. Trotz dieser wirtschaftlichen Bedeutung für Nutzung als Nahrungs- und Futtermittel sowie als Ressource für Biogas gibt es wenig Forschung und molekularbiologisches Wissen. Das Genom einer Sorte ist bereits sequenziert, was die Arbeit erleichtert und durch entstehende Mutagenesepopulationen genetische Arbeiten möglich macht. Dennoch sind weder Transformationsmethoden noch andere Protokolle gerade in Europa wirklich etabliert. Was mich motiviert ist, dass Sorghum ein ertragreiches Getreide ist, welches von sich aus schon sehr tolerant gegenüber Hitze oder Trockenheit ist, weswegen es auch für Europa, vor allem für mediterrane Staaten wie Spanien oder Italien, eine echte Alternative zu z.B. Mais bieten könnte. Klar, es gibt manchmal Tage, an denen ich mich frage, warum ich nicht einfach nur mit Arabidopsis oder Modelltomaten arbeite, wo es nicht noch 3 Jahre Rückkreuzungen braucht oder der Gewächshausplatz limitierend ist. Wenn ich dann aber meine Pflanzen bei 38°C weiterwachsen sehe oder die spannenden speziellen Metabolite analysiere, dann motiviert mich das, den Wissensstand über essbares Getreide zu erweitern und Sorghum weiter zu erforschen. Außerdem hat mich die Arbeit mit weniger etablierten Kulturpflanzen den echten landwirtschaftlichen und über molekularbiologische Fragestellungen hinausgehenden Problem näher gebracht und meine Freude an interdisziplinärer Forschung entfacht.
- Ananas – viel mehr als nur Piña Colada - 9. August 2023
Einzelnachweise
- Jägermeyr, J., Müller, C., Ruane, A.C. et al. Climate impacts on global agriculture emerge earlier in new generation of climate and crop models. Nat Food 2, 873–885 (2021). https://doi.org/10.1038/s43016-021-00400-y
- Renard, D., Tilman, D. National food production stabilized by crop diversity. Nature 571, 257–260 (2019). https://doi.org/10.1038/s41586-019-1316-y
- siehe z. B. Zhang, F., Li, L. Using competitive and facilitative interactions in intercropping systems enhances crop productivity and nutrient-use efficiency. Plant and Soil 248, 305–312 (2003). https://doi.org/10.1023/A:1022352229863 und Li C, He X, Zhu S, Zhou H, Wang Y, et al. (2009) Crop Diversity for Yield Increase. PLOS ONE 4(11): e8049. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0008049 und Smith, R.G., Gross, K.L. & Robertson, G.P. Effects of Crop Diversity on Agroecosystem Function: Crop Yield Response. Ecosystems 11, 355–366 (2008). https://doi.org/10.1007/s10021-008-9124-5
- Maniok: 302662494 t und Yams 74827234 t; Quelle FAOSTAT (28.08.2022)
- Der Anbau der Kartoffel ist weltweit relativ hoch: Afrika: 26229159; Amerikas: 44922456; Asien: 178599864; Europa: 107685637; Ozeanien: 1634287
- Bezner Kerr, R., T. Hasegawa, R. Lasco, I. Bhatt, D. Deryng, A. Farrell, H. Gurney-Smith, H. Ju, S. Lluch-Cota, F. Meza, G. Nelson, H. Neufeldt, and P. Thornton, 2022: Food, Fibre, and Other Ecosystem Products. In: Climate Change 2022: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Contribution of Working Group II to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [H.-O. Pörtner, D.C. Roberts, M. Tignor, E.S. Poloczanska, K. Mintenbeck, A. Alegría, M. Craig, S. Langsdorf, S. Löschke, V. Möller, A. Okem, B. Rama (eds.)]. Cambridge University Press, Cambridge, UK and New York, NY, USA, pp. 713–906, doi:10.1017/9781009325844.007. https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/
- Tadele, Z. Orphan crops: their importance and the urgency of improvement. Planta 250, 677–694 (2019). https://doi.org/10.1007/s00425-019-03210-6; WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (2020): Landwende im Anthropozän: Von der Konkurrenz zur Integration. Berlin: WBGU. https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/landwende
- Meyer, R., Purugganan, M. Evolution of crop species: genetics of domestication and diversification. Nat Rev Genet 14, 840–852 (2013). https://doi.org/10.1038/nrg3605
- Gasparini, K., dos Reis Moreira, J., Peres, L. E. P., & Zsögön, A. (2021). De novo domestication of wild species to create crops with increased resilience and nutritional value. Current Opinion in Plant Biology, 60, 102006.
- in diesen beiden Publikation wird die de-novo Domestikation wissenschaftlich beschrieben: Zsögön A, Čermák T, Naves ER, Notini MM, Edel KH, Weinl S, Freschi L, Voytas DF, Kudla J, Peres LEP. De novo domestication of wild tomato using genome editing. Nat Biotechnol. 2018 Oct 1. doi: 10.1038/nbt.4272 und Muhammad Zuhaib Khan, Syed Shan-e-Ali Zaidi, Imran Amin, Shahid Mansoor (2019). A CRISPR Way for Fast-Forward Crop Domestication, Trends in Plant Science, 24, 293-296. https://doi.org/10.1016/j.tplants.2019.01.011. Und auch auf unserem Blog findet sich ein Text dazu: https://progressive-agrarwende.org/de-novo-domestikation/
- Baldermann, L. Blagojević, K. Frede, R. Klopsch, S. Neugart, A. Neumann, B. Ngwene, J. Norkeweit, D. Schröter, A. Schröter, F. J. Schweigert, M. Wiesner & M. Schreiner (2016) Are Neglected Plants the Food for the Future?, Critical Reviews in Plant Sciences, 35:2, 106-119, DOI: 10.1080/07352689.2016.1201399
- David M. Goodstein, Shengqiang Shu, Russell Howson, Rochak Neupane, Richard D. Hayes, Joni Fazo, Therese Mitros, William Dirks, Uffe Hellsten, Nicholas Putnam, and Daniel S. Rokhsar, Phytozome: a comparative platform for green plant genomics, Nucleic Acids Res. 2012 40 (D1): D1178-D1186
- FAOSTAT -https://www.fao.org/faostat/en