Offener Brief an Steffi Lemke und Cem Özdemir

Liebe Frau Bundesministerin Steffi Lemke,

lieber Herr Bundesminister Cem Özdemir,

wir möchten uns gern bei Ihnen vorstellen: Wir sind die Progressive Agrarwende, eine Initiative junger, politisch und wissenschaftlich interessierter Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen, die den Diskurs über die Landwirtschaft der Zukunft seit 2019 konstruktiv mitgestalten. Nachdem wir zunächst als lockerer Zusammenschluss mit einem Blog und vielen Diskussionen auf Twitter und Co. aufgefallen sind, sind wir seit November 2020 in einem von uns gegründeten, gemeinnützigen Verein organisiert, dem Öko-Progressiven Netzwerk e.V. Wie unser Name verrät, sind wir von der Notwendigkeit einer Agrarwende überzeugt. Doch wir sind auch davon überzeugt, dass diese nur auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und mit progressiven Visionen gelingen wird.

Der vorliegende Beitrag ist zugleich eine Übersicht unserer Ziele und Ideen, Offener Brief und Gesprächsangebot an Sie beide. Wir sind überparteilich und unabhängig (unser Selbstverständnis) und unser erklärtes Ziel ist es, durch den konstruktiven und wissenschaftsbasierten Dialog Brücken zu bauen und vorhandene Gräben zu überwinden, um zu einer nachhaltigen Zukunft beizutragen.

Im Namen der Progressiven Agrarwende

Martin Reich und Robert Hoffie

(Hinweis: zum Zwecke der Übersichtlichkeit haben wir auf die direkte Zitierung wissenschaftlicher Quellen in diesem Brief verzichtet. Wir verweisen jedoch an vielen Stellen auf Beiträge auf unserem Blog. Darin finden sich selbstverständlich auch jeweils passende Verweise auf wissenschaftliche Quellen.)

Wo soll es hingehen?

Wenn man den Rucksack für eine Reise packt, sollte man sich zunächst über eines im Klaren sein: Das Ziel der Reise. Dasselbe gilt für die Reise in die Zukunft. Zum Beispiel die Zukunft der Landwirtschaft. Bevor die wichtige Diskussion über Strategien, Maßnahmen und Werkzeuge geführt wird, die in den Rucksack müssen, sollte skizziert werden, wo es denn hingehen soll. Seit einigen Jahren versuchen wir bei der Progressiven Agrarwende den Dialog dazu konstruktiv zu begleiten und mitzugestalten, mit Ideen, Gesprächen und wissenschaftlichem Input. Und wir tun dies aus der Überzeugung heraus, dass eine sozial, wirtschaftlich und ökologisch nachhaltige Landwirtschaft möglich ist, wenn wir progressiv vorangehen und nicht in verstaubten Schubladen nach Lösungen für die Zukunft suchen (siehe hierzu Eine Neue Vision für die Landwirtschaft von Johannes Kopton).

Wie sieht die Zukunftsvision der von Ihnen geleiteten Bundesministerien für die Landwirtschaft aus? Das haben wir uns in den letzten Wochen immer wieder gefragt. Das wie? ist wieder Gegenstand intensiver Debatten zwischen den üblichen Akteur*innen und soll auch Teil dieses Briefes sein. Doch zunächst zum wohin?

Unsere Zukunftsvision ist eine Landwirtschaft, welche die zukünftige Weltbevölkerung ausreichend mit guten Nahrungsmitteln versorgen kann, von der Landwirt*innen gut leben können und die ihre Auswirkungen auf Umwelt und Klima deutlich reduziert hat. Eine Vision also, die sich an den UN-Nachhaltigkeitszielen orientiert. Doch dieses allgemeine und von zahlreichen Akteur*innen vielbeschworene Ziel ist uns noch zu unkonkret. In diesem Beitrag haben wir deshalb in einer kurzen, fiktiven Szenerie im Jahre 2050 skizziert, wie das konkret aus der Sicht einer Landwirtin aussehen könnte.

Zusammenfassend ist diese Vision durch folgende Merkmale charakterisiert:

  • Landwirtschaft produziert weiterhin einen signifikanten Teil der für die ausreichende Ernährung der Weltbevölkerung nötigen Lebensmittel.
  • Landwirt*innen sind weiterhin selbständige und unhabhängige Produzent*innen, verantwortungsbewusst und modern.
  • Die Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse hat eine nachhaltige Intensivierung ermöglicht, die höhere Flächenerträge bei gleichzeitiger drastischer Reduzierung negativer Auswirkungen auf Umwelt und Klima zum Ergebnis hat.
  • Bei der Anwendung von Innovation für diese nachhaltige Intensivierung sind nicht länger wirtschaftliche Partikularinteressen maßgeblich, sondern allein der nachweisliche Beitrag zu einer nachhaltigeren Bewirtschaftung (“Evidenzbasierte Nachhaltigkeit”).
  • Ein konsequenter Ausbau acker-unabhängiger Produktion von Lebensmitteln (z. B. vertical farming auf bereits versiegelten Flächen; hydroponische Kreislaufsysteme, in denen Nährstoffe und Wasser effizient genutzt werden; fermentationsbasierte Technologien; Anbau von Pilzen und Haltung von Insekten)  hat den Druck auf die Flächen vermindert.
  • Die intelligente Kombination von Innovation u. a. aus den Bereichen Automatisierung, Sensorik, Robotik, Biotechnologie und Verfahrenstechnik hat eine Rückkehr zu kleinteilig strukturierten Agrarsystemen ermöglicht. Die Artenvielfalt in diesen strukturreichen Landschaften ist wieder deutlich gestiegen, ohne dass es Einbußen im Ertrag gab.
  • Alle diese Maßnahmen sind jeweils an global und regional sehr unterschiedliche Standortbedingungen angepasst.
  • Durch moderne Alternativen zu tierischen Lebensmitteln sind die Tierbestände insgesamt deutlich zurückgegangen, mit positiven Folgen für Tierwohl, Klima und Flächenverbrauch.
  • Die wissenschaftlich unbegründete Ablehnung von wichtigen Innovationen wie modernen Züchtungstechnologien wurde überwunden und eine Nutzbarmachung im Sinne der Nachhaltigkeit ermöglicht.
  • Weltweit können viel mehr Menschen pro Hektar bewirtschafteter Fläche ernährt werden. Dadurch sind gleichzeitig mehr Kapazitäten und Flächen für aktiven Naturschutz frei geworden.

Da niemand die Zukunft vorhersehen kann und wir nicht in die Falle einer Ideologisierung eigener Ziele tappen wollen, belassen wir es bei dieser groben Skizzierung unserer Vision. Konkrete Szenerien, wie die in unserem oben genannten Beitrag, sind beispielhaft, nicht exklusiv oder in “Stein gemeißelt” und immer auch subjektiv geprägt. Doch sie spielen sich in einer Zukunftsvision ab, wie sie aus unserer Sicht erstrebenswert ist.

Wir wollen andere animieren, solche konkreten Zukunftsvisionen zu formulieren und zur Diskussion zu stellen. Denn nur so können wir ein gemeinsames Bild einer Zukunft zusammenpuzzeln, auf die wir uns gemeinsam zu bewegen wollen. Und dann konkrete Maßnahmen diskutieren, die sich dafür am besten eignen.

Landwirtschaft und Naturschutz müssen zusammengehen

Landwirtschaft ist ganz besonders abhängig vom jeweiligen Standort, an dem gewirtschaftet wird. Das macht sie so vielfältig. Ein begrenzter Katalog von wenigen, allgemeinen Maßnahmen hilft deshalb weder den Betrieben noch dem Naturschutz besonders wirksam. Zum beiderseitigen Vorteil funktionieren Landwirtschaft und Naturschutz nur partnerschaftlich und angepasst auf den jeweiligen Betrieb und seine Gegebenheiten, und das unabhängig davon, um welches Anbaumodell es sich handelt. Zum Thema begleitender Naturschutz hat Marten Urban einen Gastbeitrag bei uns veröffentlicht. Diese Arbeit baut ganz konkrete Brücken zwischen Landwirtschaft und Naturschutz, identifiziert Probleme und findet gemeinschaftlich standortangepasste Lösungen. Pauschale Verordnungen für Umweltmaßnahmen werden der Vielfalt von Standortbedingungen, Anbaupraktiken und den dort zu schützenden Arten nicht gerecht. Andererseits haben kleinteilige Regulierungen  überberbordende Bürokratie zur Folge. Mit diesem Dilemma muss sich offen und ehrlich auseinandergesetzt und Lösungen erarbeitet werden. Eine könnte so aussehen, dass dem praktischen, kooperativen Naturschutz mehr Mittel und Spielräume gegeben werden. Die Instrumente müssen ausreichend flexibel sein, um der beschriebenen Vielfalt der Standorte gerecht zu werden (siehe hierzu ein Beitrag von Bartosz Bartowski über Agrarumweltpolitik in heterogenen Landschaften).

Das Beispiel des Projektes F.R.A.N.Z. zeigt, wie gut Umweltschutzverbände und Landwirtschaft zusammenarbeiten können, wie Robert Hoffie in seinem Bericht dazu schreibt. Die Erfahrungen aus solchen Projekten sollten schneller als bisher in konkrete Politik und damit in der Breite umgesetzt werden.

Biodiversität in landwirtschaftlichen Systemen zu erhalten und zu fördern, kann nicht allein von Landwirt*innen bezahlt werden und darf für diese nicht zur reinen Belastung werden (siehe dazu den Beitrag von unserem Mitglied Jana Gäbert, selbst Landwirtin, zu Biodiversitätsmaßnahmen auf ihrem Hof). Stattdessen muss die Arbeit für das Gemeinwohl auch gemeinschaftlich bezahlt werden. Höhere Anforderungen an Umweltschutz dürfen nicht durch soziale Auswirkungen auf die Betriebe erkauft werden.

Fläche als Schlüsselressource

Viel zu selten wird nach unserem Empfinden in der Politik noch über die größte Bedrohung für Ökosysteme weltweit gesprochen, den Flächenverbrauch. Intakte Ökosysteme brauchen vor allem Eines: Platz. Doch der ist begrenzt und der Druck wird in Zukunft noch weiter steigen. Wir brauchen Fläche nicht nur für Landwirtschaft, auch Städte wachsen immer weiter, regenerative Energieerzeugung benötigt Fläche, Moore sollen wiedervernässt und Wälder aufgeforstet werden. Aus unserer Sicht muss Fläche als begrenzte Ressource viel stärker thematisiert werden, vor allem vor dem Hintergrund, dass für diese Legislaturperiode ein Ausbau des ökologischen Landbaus geplant ist – und Ökolandbau braucht in seiner momentanen Form nun einmal mehr Fläche als Landwirtschaft ohnehin schon. Vor allem durch den Verzicht auf mineralische Dünger und “chemisch-synthetische” Pflanzenschutzmittel (ein Attribut, dass wissenschaftlich gesehen nichts über die Nachhaltigkeit dieser Mittel aussagt) kommt es im Ökolandbau zu geringeren Flächenerträgen. Im Gegenzug weisen Flächen, die ökologisch bewirtschaftet sind, eine etwas höhere Artenvielfalt auf. Allerdings ist diese höhere Artenvielfalt eher ein Nebeneffekt der weniger effektiven Maßnahmen des Pflanzenschutzes. Mit gezielten, lokal angepassten Maßnahmen zur Förderung der Artenvielfalt lassen sich Umweltschutz und produktive Landwirtschaft besser vereinen, als das der reine Ökolandbau heute tut. Wenn eine Steigerung des Flächenertrages dazu genutzt wird, Flächen einzusparen, ist das zusätzlich gut für die Umwelt und das Klima (siehe hierzu den Artikel von Peter Breunig, in dem die Empfehlungen des Weltklimarats mit den Zielen der vorherigen Regierung für die Landwirtschaft abgeglichen werden). Dabei muss global gedacht werden: es geht nicht nur um Umweltschutz in Deutschland und Europa. Da international mit landwirtschaftlichen Gütern gehandelt wird, wirken sich sowohl der Konsum als auch die Produktion hierzulande auf andere Orte der Welt aus. Jedes Kilogramm Getreide, dass hier weniger produziert, aber weiterhin konsumiert wird, muss anderswo produziert werden. Dadurch importieren wir auch Fläche aus anderen Ländern und die eventuell damit verbundenen Landnutzungsänderungen, die auch die Verdrängung artenreicher Ökosysteme beinhalten können.

Gleichzeitig kann es nicht darum gehen, dass Europa entscheidet, wie in anderen Ländern Landwirtschaft betrieben wird (siehe dazu auch der Gastbeitrag von Patricia Nanteza) oder mit überschüssiger Produktion die Märkte in anderen Ländern negativ beeinflusst. Ernährungssicherung, Klima- und Umweltschutz sind globale Herausforderungen, die weltgemeinschaftlich und auf Augenhöhe gelöst werden müssen.

Wenn für dieselbe Menge an Nahrung weniger Fläche benötigt wird, ist theoretisch also mehr Platz übrig für z. B. Wald oder artenreiche Feuchtgebiete. Rahmenbedingungen sollten darauf hinwirken, dass dies dann auch eintritt, dass also der freiwerdende Platz nicht für andere wenig nachhaltige Bewirtschaftungsformen, etwa den Anbau von Biokraftstoffen genutzt wird (“Rebound-Effekt”).

Neben der ausreichenden und gesunden Ernährung der Menschen weltweit muss das Ziel einer progressiven Agrarwende die Minimierung negativer Umwelteinflüsse  sein. Doch sowohl die Analyse der Ursachen als auch die Bewertung möglicher Lösungsansätze muss auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse geschehen. Wir brauchen eine Landwirtschaft, die besser ist als das, was heute “Ökolandbau” heißt. Zu sehr wurde der Bevölkerung während der letzten Jahrzehnte suggeriert, diese Form der Landwirtschaft sei die denkbar nachhaltigste. Der bisherige Dualismus aus “öko” vs. “konventionell” hemmt stattdessen die Weiterentwicklung der Landwirtschaft insgesamt, da die “Öko”-Branche den Kontrast zur “schlechteren” Landwirtschaft benötigt, um ihren höheren Preis gegenüber den Kund*innen zu rechtfertigen.

Wo muss es also stattdessen hingehen?

Ökologischer oder konventioneller Landbau? Ein lähmender Dualismus

Wir sind keine Gegner*innen des ökologischen Landbaus. Vieles von den Konzepten dieser Form der Landwirtschaft ist sinnvoll, allem voran die allgemeine Zielstellung, den Anbau von Nahrung möglichst umweltverträglich zu gestalten. Jedoch macht der Ökolandbau dabei “Natürlichkeit” zum Maßstab. Das ist aber keine geeignete Kategorie, um zu bewerten, ob eine Technik, ein Stoff oder eine landwirtschaftliche Praktik sicher und nachhaltig sind. Außerdem erhöht der deutlich geringere Ertrag den Flächenbedarf und damit zusätzlich den Druck auf die ohnehin knappe Ressource Land (s. o). Der konventionelle Landbau in seinen heutigen Ausprägungen benötigt andererseits zu viele Inputs in Form von energieintensiven Dünge- oder Pflanzenschutzmitteln, um hohe Erträge zu erzielen. Zusammen mit einer Flurbereinigung sorgen diese Maßnahmen für eine geringere Artenvielfalt als es sie in früheren, extensiv bewirtschafteten Systemen gab. Ein Umbau der heutigen Landwirtschaft zu einem nachhaltigeren System kann also keines dieser beiden Modelle zum Vorbild nehmen, sondern sie nur als Basis für ganz neue Ansätze nutzen, die Effizienz mit Ressourcenschonung und Umweltschutz vereinen. Wir brauchen eine Landwirtschaft, die besser ist als alles, was wir bisher haben.

Mehr Biodiversität auf der bewirtschafteten Fläche ist wichtig und ein Plus des Ökolandbaus. Aber bei gleichbleibendem Konsum bedeutet weniger Ertrag hierzulande einen Ausgleich durch Importe und einen Ausbau des Anbaus anderswo. Da wir uns in Mitteleuropa in einer für Ackerbau sehr günstigen Region befinden, ist es zudem wahrscheinlich, dass der Ertragsverlust hier durch noch mehr Flächeneinsatz in anderen Weltregionen kompensiert werden muss. Konkret: Im schlimmsten Fall wird Urwald gerodet oder werden ökologisch wertvolle Feuchtgebiete trockengelegt, weil wir bei uns weniger ernten. Deshalb ist Europa als Gunststandort auch global in besonderer Verantwortung, sein Ertragspotential zu nutzen, um Nahrungsmittel zu produzieren.

Neben einer effizienten und gleichzeitig umweltschonenden Landnutzung sehen wir außerdem Möglichkeiten der Politik und der Gesellschaft, durch eine Veränderung des Konsumverhaltens insgesamt weniger Fläche zu beanspruchen (mehr dazu weiter unten). Doch unserer Ansicht nach kann man dies nicht als gegeben voraussetzen, um das Risiko eines steigenden Flächenbedarfs durch den Ausbau des Ökolandbaus herunterzuspielen. Diese Ansätze dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, dafür ist die weltweite Klima- und Biodiversitätskrise viel zu ernst. Das eine muss getan werden, ohne das andere zu lassen: Produktion und Konsum müssen gleichzeitig angegangen werden, wenn man die Bedrohung von Klimakrise und schwindender Ökosysteme ernst nimmt und wirksam bekämpfen will.

Es gibt, davon sind wir überzeugt, einen Ausweg aus dieser Misere und auf diesen versucht die Wissenschaft bereits seit Jahren aufmerksam zu machen. Ertragssicherung und womöglich sogar -steigerung bei gleichzeitiger Verringerung negativer Auswirkungen auf Umwelt und Klima sind möglich. Dieses Ziel wird “nachhaltige Intensivierung” genannt. Im Folgenden wollen wir einige der, aus unserer Sicht vielversprechendsten, Werkzeuge beschreiben, die für diese Reise in den Rucksack gehören.

Nachhaltige Intensivierung – Einige Bausteine

Moderne Pflanzenzüchtung: Give Genes a Chance

Ein Baustein, bei dem wir einiges an eigener Expertise mitbringen, ist die Nutzung fortschrittlicher Methoden in der Pflanzenzüchtung im Sinne einer nachhaltigen Landwirtschaft. Inzwischen ermöglichen diese eine viel präzisere und weniger aufwendige Züchtung (eine kurze Erklärung, wie beispielsweise CRISPR funktioniert, hat Anna Müllner für unseren Blog verfasst). Doch durch veraltete Regulierungsmechanismen und eine Verstetigung von wissenschaftlich längst überholten Denkmustern (siehe hierzu ein Bericht von Mona Noé über ihren eigenen Sinneswandel vom Bauchgefühl zum Fakt sowie ein Beitrag von David Spencer zur Angst vor Veränderung) wird eine Anwendung dieser Methoden im Sinne einer nachhaltigen Landwirtschaft blockiert. Unserer Ansicht nach sollten, genauso wie beim Klimawandel und anderen wichtigen Themen, wissenschaftliche Erkenntnisse in praktische Politik umgesetzt werden, um sie für mehr Nachhaltigkeit zu nutzen. Es sind immerhin die Erkenntnisse einer von der Bevölkerung finanzierten, unabhängigen Wissenschaft: Hört auf sie! Mit unserer Kampagne “Give Genes A Chance” setzen sich dafür bereits hunderte junge Wissenschaftler*innen aus der ganzen EU ein. Wir hoffen, dass diese Stimmen aus der jungen Wissenschaft in Zukunft mehr Gehör bei der Politik und in der Öffentlichkeit finden als diejenigen, die auf der Basis von Angst vor Gentechnik ihre Geschäftsmodelle aufgebaut haben (siehe u.a. Margareta Hellmanns Text über Nachweis und Kennzeichnung “neuer Gentechnik”)

Dass mit der Anwendung von Gentechnik in der Pflanzenzüchtung große Chancen und geringe Risiken verbunden sind, ist durch eine erdrückende Vielzahl von öffentlich finanzierten Studien belegt und entsprechende Empfehlungen, auf dieser Basis die legislativen Weichen zu stellen, wurden von zahlreichen politikberatenden Wissenschaftsgremien empfohlen (siehe u.a. die Stellungnahme der Leopoldina ).

Seit Jahrtausenden haben wir Menschen die Gene von Pflanzen durch Züchtung deutlich verändert, durch Domestikation, gezielte Selektion, absichtliche Mutagenese. Dank des Fortschritts in der Wissenschaft wissen wir heute mehr denn je über die Auswirkungen genetischer Veränderungen und haben präzise Werkzeuge entwickelt, solche Veränderungen gezielt herbeizuführen. Statt mit herkömmlichen Methoden das Genom von Nutzpflanzen weiterhin auf gut Glück zu bearbeiten, sollten wir endlich mit Präzision und Bedacht vorgehen (siehe dazu z. B. den Text von Robert Hoffie zu De-novo-Domestikation mit CRISPR).

Dass wir gleichzeitig vor akuten, globalen Herausforderungen der Nachhaltigkeit stehen und deshalb eine schnelle und ressourcensparende Pflanzenzüchtung so wichtig wie noch nie zuvor war, leitet für uns den deutlichen Appell an die Politik ab: Schafft schnellstens Rahmenbedingungen, in denen dieser wissenschaftliche Fortschritt endlich zur Nachhaltigkeit beitragen kann. Es ist schon zu viel Zeit verloren gegangen, in der die nötigen Feldversuche nicht stattfinden konnten, in der viele der besten Wissenschaftler*innen aufgrund mangelnder Perspektiven abgewandert sind, in der unnötig viele Pflanzenschutzmittel ausgebracht wurden, in der andernorts wertvolle Ökosysteme weichen müssen, weil unnötige Ertragsausfälle zu Flächenfraß führen.

Was mit CRISPR & Co. schon heute in der Pflanzenzüchtung möglich ist, beschreibt dieser Artikel.

Neue Anbauformen 

Auch wenn Pflanzenzüchtung ein wichtiger Teil der Lösung ist, ist uns bewusst, dass einzelne Ansätze nur einzelne Beiträge liefern können und es am Ende die Anbausysteme und die landwirtschaftliche Praxis sind, welche die Nachhaltigkeit maßgeblich bestimmen. Was wir fordern ist kein „Technofix“: es muss objektiv analysiert und bewertet werden, was wie viel zur Nachhaltigkeit beitragen kann (auch bei Themen wie Farming 4.0 oder Humuszertifikaten). Dabei müssen wissenschaftliche Kriterien angelegt werden, um zu echter, evidenzbasierter Nachhaltigkeit zu kommen.

Dafür muss auch über etablierte Anbauformen hinaus gedacht werden. Die Erforschung, Optimierung und Umsetzung vielversprechender Ansätze, wie z. B. Agroforst (siehe dazu ein Text von Christoph Meixner) oder Innovation, die eine nachhaltigere Weidehaltung ermöglichen kann (siehe hierzu ein Text von Juliane Horn), sollten ausreichend gefördert werden. Sensorik, Automatisierung, Robotik und innovative Gerätschaften könnten genutzt werden, um auch kleinere Schläge lohnend zu bewirtschaften. Der Einsatz von technologischer und methodischer Innovation muss insgesamt so gelenkt werden, dass er wieder zu einem kleinteiligeren, artenreicheren Agrarsystem führt – das gleichzeitig nicht weniger, sondern sogar noch mehr Ertrag pro Fläche erbringt.

Kreisläufe, Bioökonomie, Produktion ohne Acker – Chancen durch Innovation konsequenter wahrnehmen und umsetzen!

Inzwischen bietet die Forschung in unterschiedlichsten Disziplinen, die man allgemein der Bioökonomie zuordnen kann, unzählige Innovationen für einen nachhaltigeren Konsum. Insekten, Algen, Pilze und andere alternative Proteinquellen machen teilweise eine ressourcenschonendere Produktion möglich (siehe hierzu die Texte auf unserem Blog zu einer progressiven Ernährungswende). Teilweise sogar eine, die von wertvollem Ackerboden viel unabhängiger ist als bisherige Formen des Anbaus. Urban farming, (Präzisions)fermentation (hierzu haben Christian Kaiser und Martin Reich einen Text geschrieben), Insekten als Baustein landwirtschaftlicher Kreisläufe, der Anbau von Algen auf Dächern und an Fassaden (oder auch zu Hause, siehe den Beitrag von Johannes Kopton). Auch Technologien und Ansätze, Rohstoffe auf Höfen in Kreisläufen zu führen oder Nährstoffe aus städtischen Abwässern zu gewinnen, liegen als Blaupause in Forschungsinstituten und warten nur darauf, für die breite Realisierung weiterentwickelt zu werden.

Die meisten dieser Möglichkeiten einer nachhaltigeren Produktion werden durch einen Ausbau ökologischen Landbaus, der viele dieser Ansätze durch sein “Natürlichkeitsdogma” kategorisch ausschließt, nicht wahrgenommen.

Ressourcenschonender Konsum

Bis das Wachstum der Weltbevölkerung ein Plateau erreicht, kommen laut wissenschaftlicher Prognosen noch mehrere Milliarden Erdenbewohner*innen hinzu und gleichzeitig steigt der Wohlstand weltweit an. Und da mit diesem Anstieg des Wohlstandes auch ein höherer Ressourcenkonsum pro Kopf einhergeht, wird eine effizientere Produktion alleine unser Dasein auf diesem Planeten nicht nachhaltig machen können. Sozioökonomische Aspekte der Landwirtschaft und Ernährung müssen unbedingt ebenso angegangen werden. Denn letztlich können wir eine nachhaltig lebenswerte Gesellschaft nur durch eine Entkopplung unserer Lebensweise von Ressourcenverbrauch und Umweltauswirkungen erreichen (Beitrag Johannes Kopton auf ÖkoProg). Dies ist eines der Kernthemen des Öko-Progressiven Netzwerkes. Im Falle von Landwirtschaft und Ernährung muss eine progressive Ernährungswende unbedingt Teil einer progressiven Agrarwende sein. Auch hier muss evidenzbasierte Nachhaltigkeit vor Kriterien wie „Natürlichkeit“ oder „Ohne Gentechnik“ stehen. Ein Bewusstseinswandel bei Verbraucher*innen, Erzeuger*innen und Politik sind nötig, um wirklich nachhaltigem Konsum den Weg zu bereiten.

Produktion und Konsum sind zwei Seiten derselben Medaille und Politikmaßnahmen in beiden Bereichen müssen ineinandergreifen. Sie ersetzen einander aber nicht, sondern bilden erst zusammen einen wirklich großen Hebel.

Das Eine tun ohne das Andere zu lassen: die Krise ist JETZT

Selbstverständlich muss die Konsumseite intensiv mitgedacht und -gestaltet werden. Verschwendung muss reduziert, Konsum ressourceneffizienter und sozial gerechter werden. Echte Transformation kann aber auf individueller Ebene nur dann gelingen, wenn entsprechende Ernährungsumfelder geschaffen werden und der Zugang zu diesen der gesamten Gesellschaft gleichermaßen ermöglicht wird. Eine Verringerung des landwirtschaftlichen Ertrags kann – unabhängig von der Ursache – nicht mit Appellen an Konsumverhalten ausgeglichen werden. Das ist zu riskant und reicht auch nicht aus. Denn was ist, wenn Appelle und selbst neue Regulierungen eine solche Verhaltensänderung (die weltweit nötig wäre) nicht ausreichend oder nicht schnell genug erreichen? Außerdem wächst die Weltbevölkerung noch um einige Milliarden Menschen, deren Wohlstand glücklicherweise im Schnitt immer weiter steigt. Dieses zu erwartende Mehr an Ressourcenverbrauch wird nicht allein mit Maßnahmen auf der Konsumseite, weniger Anbau für Biokraftstoffe oder weniger Verschwendung auszugleichen sein.

Den einen, großen Hebel gibt es nicht. Wir müssen stattdessen an allen Stellschrauben bei Produktion und Konsum gleichzeitig drehen. Oben haben wir beschrieben, dass eine umweltverträglichere Landwirtschaft, die gleichzeitig stabile Erträge liefert, möglich ist.

Hört auf die Wissenschaft! Wir brauchen objektive, evidenzbasierte Nachhaltigkeit.

Wir brauchen eine progressive Agrarwende.

 

Unser Angebot

Liebe Frau Bundesministerin Steffi Lemke,

lieber Herr Bundesminister Cem Özdemir

Als neutrale Plattform für einen konstruktiven Dialog und als direkte Gesprächspartner*innen stehen wir Ihnen zur Verfügung. Neben eigenen Mitgliedern, die in relevanten Bereichen tätig sind, engagieren wir uns auch gerne als vermittelnde Partner*innen zwischen Politik und einem stetig wachsenden Netzwerk an Akteur*innen aus Forschung, Landwirtschaft und Umweltschutz.

Herzliche öko-progressive Grüße

im Namen der Progressiven Agrarwende

Martin Reich und Robert Hoffie

Martin Reich
Robert Hoffie

5 Kommentare

  1. Die FREIEN BAUERN Deutschland vertreten eine ähnliche Meinung von einer ökologischen Intensivierung ,bei der der Gegesatz von ökologischer und sog.“konventioneller“Landwirtschft überwunden wird.Immer mehr reiner Ökolandbau erfordert mehr Flächen für die landwirtschaftliche Produktion..Bei der SPD-nahen Friedrich -Ebert-Stiftung beteiligte ich mich an einer ähnlichen Diskussion.Die Orientierung auf 30%Öko der EU ist kontraproduktiv,weil bei weniger eigenem Aufkommen Nahrungsmittel aus abgebrannten Urwäldern und von armen Ländern importiert werden,sodass dort noch mehr gehungert wird.
    Es gibt zur Meinug der FREIEN BAUERN einige Unterschiede aber überwiegend Übereinstimmung.Die gegenwärtige Agrarpolitik der EUund der Bundesregierung führt in eine Sackgasse und kann von Fachleuten nicht oder kaum akzeptiert werden.

  2. Endlich mal ein ideologiefreier Beitrag, der sich zum Ziel gesetzt hat mit allgemein anerkanntem Faktenwissen und dem Ruf nach solider wissenschaftlicher Begleitung einen Weg eröffnet, dem man sich eigentlich nicht verschließen kann. Eine Abkehr von Überholtem, dank neueren Erkenntnissen verbunden mit einem Neuanfang unter stärkerer Berücksichtigung von Natur und Umwelt unter der Prämisse einer ausreichenden, vielfältigen und gesunden Ernährung.
    Danke

  3. Ich unterstütze diesen offenen Brief aus vollem Herzen. Auf Grund meiner langjährigen wissenschaftlichen Ausblidung und Erfahrung im Bereich der Pflanzenmolekularbiologie inklusive Anwendung der etwas älteren und modernen Genome Editing Methoden, kann ich nur sagen, dass das Risiko dieser Anwendungen sehr viel geringer ist, als es von einigen dargestellt wird. Dafür sind die Chancen der neuen und präziseren Methoden enorm, lasst Sie uns nicht verschenken durch Streitereien in ideologischen Lagern. Jede Methode hat ihre Licht- und Schattenseiten, diese zu trennen und unterschiedlich zu behandeln (z.B. durch Regulierungen) ist die Anwendung gesunden Menschenverstandes und sollte zur Prämisse aller Handlungen werden.

  4. Die vorgebrachten Anliegen sind überaus wichtig. Wir können es uns weder in Deutschland noch weltweit leisten, unter der Überschrift „Öko“ oder „Bio“ eine Landwirtschaft zu fördern, die in vielen Punkten an der Nachhaltigkeit vorbei geht. Wissenschaftliche und technische Erkenntnisse müssen berücksichtigt und genutzt werden, damit ein übermäßiger Flächenverbrauch verhindert wird. Allein die Bevorzugung von Stoffen oder Vorgängen die als natürlich gelten, macht diese nicht besser, oft ist das natürliche nicht das optimale Mittel. Es muss wesentlich mehr Wissenschaft in den Vordergrund gebracht werden, so wie es sich beim Thema Gesundheit ebenfalls durchsetzt.

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