Die Alten und die Jungen

Das Sortenwesen ist kaum jemanden bekannt, dabei bestimmt es, welche neuen Pflanzensorten auf Äckern und in Gewächshäusern angebaut werden dürfen. Dabei stellt sich die Frage: Brauchen wir überhaupt noch Pflanzenzüchtung? Neue Sorten gelten doch schon heute als „überzüchtet“ und alte Sorten als besonders widerstandsfähig. Aber ist das so? Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen.

In den vorherigen Artikeln haben wir uns der Sache schon angenähert: Unsere Kulturpflanzen wurden im Laufe von 10.000 Jahren Ackerbau domestiziert („gezähmt“). So konnten wir sie an unsere Bedürfnisse, ihre Nutzung und ihren Anbau in unterschiedlichen Regionen der Welt anpassen. Für lange Zeit betrieben Bäuer*innen diese einfache Züchtung „nebenbei“, indem sie ihr Saatgut von jeweils den Pflanzen gewannen, die sich am besten “verhielten“ und so ihre eigenen „Sorten“ züchteten und miteinander austauschten. Heute bezeichnen wir diese eher als „Landrassen“. Mit der Professionalisierung der Pflanzenzüchtung im 19. Jahrhundert begann auch die Spezialisierung. Aus einigen Landwirt*innen wurden nun Pflanzenzüchter*innen. Sie entwickelten gezielt neue Sorten und verkauften das Saatgut an Bäuer*innen. Mittlerweile hat sich daraus eine sehr arbeitsteilige, sehr spezialisierte Branche entwickelt und parallel dazu – zumindest in Europa – ein ebenso komplexes Sortenwesen. Seit den 1950er Jahren kommt keine Pflanzensorte ohne staatliche Prüfung aufs Feld. Auch der Handel mit Saatgut unterliegt strengen Regeln.

Kleine Kartoffelvielfalt (v.l.n.r.): ‚Bamberger Hörnchen‘ (ca. 1870), ‚Blaue St. Galler‘ (2011) und ‚Baltic Rose N‘ (2016), Ernte & Foto: Robert Hoffie

Das Sortenwesen

Nachdem ein Zuchtunternehmen eine Sorte entwickelt hat, beantragt es die Sortenzulassung bei der zuständigen Stelle. In Deutschland ist das das Bundessortenamt in Hannover. Das Bundessortenamt baut die neue Sorte drei Jahre lang an mehreren Standorten in ganz Deutschland an und bewertet sie anhand der sogenannten DUS-Kriterien (distinctiveness, uniformity, stability) und dem „landeskulturellen Wert“:

Homogenität und Beständigkeit    

Alle Individuen einer Sorte müssen gleich aussehen und sich gleich entwickeln (also bspw. gleichzeitig keimen oder reifen) und müssen diese Eigenschaften jedes Jahr gleichermaßen aufweisen.

Landeskultureller Wert

In der Gesamtheit ihrer Eigenschaften muss die neue Sorte eine Verbesserung für den Anbau oder die Verarbeitung gegenüber den bereits zugelassenen Sorten darstellen.

Unterscheidbarkeit                         

Die neue Sorte muss sich durch mindestens ein Merkmal von allen schon zugelassenen Sorten der gleichen Pflanzenart unterscheiden.

Sortenname                                     

Jede neue Sorte benötigt eine eindeutige Bezeichnung.

Neben dem dreijährigen Anbau im Feld untersucht das Bundessortenamt die neue Sorte auch im Labor, etwa auf Krankheitsresistenzen oder Qualitätseigenschaften wie bestimmte Inhaltsstoffe. Für landwirtschaftliche Arten werden jährlich 900 Sorten angemeldet, aber nur 20 Prozent bekommen auch eine Zulassung. Die Sortenzulassung gilt für 10 Jahre (bei Weinreben für 20 Jahre) und ist die zwingende Voraussetzung dafür, Saat- oder Pflanzgut für diese Sorte verkaufen zu dürfen. Das regelt in Deutschland das Saatgutverkehrsgesetz (SaatG). Die Sortenzulassung stellt also erstmal einen Verbraucherschutz dar, wobei mit Verbraucher*innen hier in erster Linie die Landwirt*innen gemeint sind, denen die Sortenprüfung garantiert, dass eine zugelassene Sorte die versprochenen Eigenschaften auch wirklich besitzt. Die Pflanzenzuchtfirmen können im Gegenzug für eine zugelassene Sorte „Sortenschutz“ beantragen. Dieser gewährt ihnen für 25 Jahre (Kartoffeln, Hopfen, Weinreben, Bäume: 30 Jahre) ein exklusives Vertriebsrecht für Saat- und Pflanzgut. Das bedeutet, nur der Züchter selbst (oder von ihm Beauftragte) dürfen Saat- und Pflanzgut der Sorte in Verkehr bringen. Damit soll sichergestellt werden, dass sich die großen Investitionen, die für die Entwicklung einer Sorte nötig sind, wieder refinanziert werden können. Der Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter (BDP) beziffert die Kosten für die Entwicklung einer neuen Sorte auf etwa 1 Mio. Euro. Doch der Sortenschutz hat auch zwei wichtige Ausnahmen: Das Landwirteprivileg erlaubt es Landwirt*innen, aus ihrer eigenen Ernte (seit den 1990er Jahren gegen Zahlung einer Nachbaugebühr) Saatgut zu gewinnen und dieses selbst wieder zu nutzen. Das Züchterprivileg gestattet es Züchter*innen, mit der geschützten Sorte einer anderen Firma selbst weiter zu züchten und so eine eigene neue Sorte zu entwickeln. Damit stellt der Sortenschutz einen Kompromiss aus dem Schutz des geistigen Eigentums der Pflanzenzüchter*innen, dem Wunsch der Landwirt*innen, selbst Saatgut zu produzieren und dem gesellschaftlichen Ziel eines schnellen Zuchtfortschritts dar. Das beschriebene Verfahren gilt in der Europäischen Union, und (mit Abweichungen) in 71 Staaten weltweit unter Verwaltung der UPOV (Union internationale pour la protection des obtentions végétales, deutsch: Internationaler Verband zum Schutz von Pflanzenzüchtungen). Der Sortenschutz ist kein Patent. Letzteres ist deutlich weitreichender und beinhaltet etwa keinen Züchtervorbehalt. Nachdem das Europäische Patentamt einige Patente auf Pflanzenzüchtungen erteilt hat, gab es in den letzten Jahren Verschärfungen, die genau das nun Verhindern sollen. Patente können in Europa nicht „auf im Wesentlichen biologische Züchtungen“ erteilt werden. Sie passen auch nicht in die Pflanzenzüchtung.

Open-Source-Saatgut als Alternative?

Doch auch an dem bisherigen Verfahren gibt es Kritik. Zum einen sind die Zulassungskriterien so streng, dass viele alte Sorten oder solche, die von Amateurzüchter*innen entwickelt wurden, sie nicht erfüllen können. Ohne Zulassung darf aber kein Saatgut von ihnen verkauft werden. Selbst der Tausch auf Saatgutbörsen war lange eine rechtliche Grauzone. Hierfür wurde 2009 eine vereinfachte (und billigere) Zulassung für Erhaltungs- und Amateursorten eingeführt, die etwas Abhilfe schaffen soll. Als Alternative für den Sortenschutz gibt es Ansätze wie „Open Source Seeds“. Hierbei geht es darum, Saatgut als Gemeingut zu betrachten. Gemeinnützige Züchter können mit der Open-Source-Lizenz ihre Sorten frei verfügbar machen und stellen außerdem sicher, dass auch mit dieser Sorte entwickelte Nachfolger ebenfalls frei verfügbar sind. Neun Sorten unter dieser Lizenz gibt es bereits.

Tomate ‚Sunviva‘ (gelb, Zulassung 2017, Open Source Seeds) auf ‚Harzfeuer‘ (rot, Zulassung 1959). Ernte & Foto: Robert Hoffie

Warum brauchen wir neue Sorten?

Doch wozu all dieser Aufwand, wenn wir doch mit alten Sorten eigentlich schon alles haben, was wir brauchen? Es ist ein weit verbreiteter Mythos, dass alte Sorten per se besser seien, als neue. In aller Regel ist eher das Gegenteil der Fall. Es ist bei weitem nicht nur der Ertrag, bei dem sie schwächer abschneiden. Alte Sorten haben auch alte Resistenzen, die von den Schaderregern bereits überwunden wurden und deshalb nicht mehr wirksam sind. Im groß angelegten Projekt BRIWECS wurden über fünf Jahre insgesamt 220 Weizensorten aus den letzten 50 Jahren an mehreren Standorten in Deutschland und mit verschiedenen Anbauintensitäten bei Pflanzenschutz und Düngung getestet. Die aktuelleren Sorten lieferten nicht nur unter allen Bedingungen mehr Ertrag, sondern waren auch weniger anfällig gegen Krankheiten. Kurz: Mit neuen Weizensorten lässt sich auf derselben Fläche mit weniger Inputs mehr produzieren. Weshalb das eine sehr gute Nachricht ist, hat Peter Breunig hier beschrieben. Und wie steht es mit anderen wichtigen Sorteneigenschaften? Häufig werden beispielsweise geschmacklose Tomaten als Negativbeispiele für moderne Sorten angeführt. Von niederländischen „Wasserbomben“ ist zuweilen die Rede. Doch dieser Vorwurf stimmt nicht mehr, wie Forscher*innen der Uni Wageningen in einer aktuellen Studie berichten. Demnach hat sich die genetische Diversität niederländischer Gewächshaustomaten im Vergleich zu den 1950er Jahren deutlich erhöht. Die Wissenschaftler*innen haben dabei zwei besonders starke Schübe festgestellt: Einer in den 1970er Jahren, als Züchter*innen für verbesserte Krankheitsresistenzen Gene aus Wildtomaten einkreuzten. Einen zweiten Schub gab es in den 1990er Jahren, als niederländische Züchter*innen auf die geschmacklosen Vorwürfe aus Deutschland reagierten und aromatischere Sorten züchteten.

Aus praktischer Sicht ist die Sache also ziemlich klar: Wir brauchen weiterhin Züchtungsfortschritt, um unsere Kulturpflanzen auf sich verändernde Bedingungen anzupassen. Sei es das Klima, seien es Schaderreger, die vorhandene Resistenzen überwinden oder neue Ansprüche, die Verbraucher*innen an Produkte stellen.

Kann das alte dann alles weg?

Auch wenn alte Sorten nicht mehr den heutigen Ansprüchen genügen, brauchen wir sie aber als wichtige Ressourcen. Was vielleicht schon im Laufe des Textes deutlich wurde: jede Pflanzensorte ist für sich eine komplexe Komposition unterschiedlichster Eigenschaften, die für den Anbau, die Verarbeitung und den Verzehr der Pflanze relevant sind. Bei Weizen geht es neben den Krankheitsresistenzen oder den Backeigenschaften (die wiederum aus vielen Einzelaspekten wie dem Proteingehalt oder der Kohlenhydratzusammensetzung bestehen) auch um die Aussaatzeit, den Reifezeitpunkt, Ansprüche an den Boden, das Klima und vieles andere mehr. Eine Sorte ist also ein Kompromiss aus vielen einzelnen Speziallösungen. Genau da kommen wieder die alten Sorten ins Spiel. Auch wenn wir sie nicht mehr direkt auf den Feldern anbauen möchten, können sie einzelne Spezialeigenschaften besitzen, die auch heute noch oder wieder nützlich sind. Das können beispielsweise Toleranzen für extreme Klimabedingungen wie Trockenheit oder Salzgehalt sein oder auch Krankheitsresistenzen in exotischem Zuchtmaterial, die bisher nicht in der Breite genutzt wurden oder gegen Schaderreger helfen, die im Zuge des Klimawandels in neuen Regionen Probleme machen. Mit Sorten von gestern lösen wir also nicht die Herausforderungen von morgen! Sie sind aber eine wichtige Ressource für Antworten auf alte und neue Fragen. Deshalb müssen wir sie für die Züchtung erhalten.

Zum Weiterhören:

Mit Vielfalt gegen den Klimawandel, Deutschlandfunk Kultur

Zum Weiterlesen:

Die Weizen-Studie bei Nature Plants [€]

Robert Hoffie

6 Kommentare

  1. Lieber Herr Hoffie,
    das ist ein sehr informativer Artikel, den ich mit Interesse gelesen habe. Danke dafür!
    Kritik habe ich an etwas Formalem. Sie benutzen die sogenannte gendergerechte Sprache. Aber die Sprachwissenschaft lehrt uns, dass die normale Sprache, die wir alle im täglichen Leben nutzen, schon gendergerecht ist. Der Begriff Verbraucher meint Verbraucherinnen und Verbraucher. Benutzen Sie doch einfach die Sprache von G. Mendel, Hegel , der Gebrüder Humboldt etc. und der großen deutschen Literaten. Dann liegen Sie richtig. Sie treten in Ihrem Artikel ja auch den Beweis an, dass diese artifizielle Sprache gar nicht durchzuhalten ist, denn Sie sprechen auf einmal ja wieder von Züchtern und Pflanzenzüchtern ohne Genderstern. Wie gesagt, die Kritik gilt nur dem Formalen, inhaltlich schätze ich ihre Kompetenz!

    1. Lieber Herr Szibor,
      vielen Dank für Ihre Rückmeldung.
      Wir verstehen uns als progressiv nicht nur bezüglich einer nachhaltigeren Landwirtschaft sondern auch gesellschaftlich. Deshalb haben wir uns entscheiden, in unseren Texten eine möglichst inklusive Sprache zu verwenden. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass das generische Maskulinum nicht generisch verstanden wird, sondern stattdessen tatsächlich überwiegend männlich interpretiert wird. Es gibt sicherlich nicht den einen richtigen Ansatz, dieses Problem anzugehen. Das * kommt, wie im obigen Text beispielsweise an seine Grenzen, wenn abwechselnd die Personen oder Pflanzenzüchtugnsunternehmen gemeint sind. Ich werde den Text dahingehend gern noch einmal überarbeiten.
      Sprache unterliegt, wie wohl alles andere auch, ständigem Wandel. Das zeigt zum Beispiel ein Blick in Mendels Originalpublikation, die aus heutiger Sicht zahlreiche Rechtschreibfehler und mindestens unübliche Formulierungen enthält: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/mendel_pflanzenhybriden_1866?p=14

  2. Hallo Robert,
    Sehr schöner Artikel, ausgewogen und aufklärend in Bezug auf alte Sorten und Zuchtfortschritt.

    Nur bei den Hybriden ist es etwas anders, meines Wissens. Nachbau ist nicht erlaubt oder? Und die DUS Kriterien erfüllen sie auch nicht, nur die Elternlinien (als Gebrauchskreuzungen sind Hybriden genetisch nicht stabil).

    Grüße, Johannes

    1. Hallo Johannes,
      danke für deine Rückmeldung 🙂
      Genau, Hybriden dürfen nicht nachgebaut werden. Es gibt auch auch noch weitere Ausnahmen, zum Beispiel auch einige Leguminosen. Die Saatgut-Treuhandverwaltung schreibt dazu: „Im Sortenschutzrecht ist festgelegt, welche Arten nachgebaut werden dürfen (z. B. Weizen, Gerste oder Grobleguminosen wie Erbsen, Bohnen und Gelbe Lupinen) und welche nicht (z. B. Blaue Lupine, Senf, Sojabohne). Nicht nachgebaut werden dürfen jegliche Hybridsorten und synthetische Sorten. Auch aus betriebswirtschaftlichen Gründen kann von einem Nachbau von Hybriden nur abgeraten werden.“ https://www.stv-bonn.de/inhalt/nachbauerklaerung/faq

      Die Zulassungskriterien beziehen sich auf den Phänotyp. Die Sorte muss also in jedem Jahr einheitlich aussehen (Homogenität) und die gleichen Eigenschaften besitzen (Beständigkeit). Das trifft auf eine Hybridsorte auch zu, wenn sie jedes Jahr als „frische“ F1-Hybride angebaut wird. Sie ist phänotpisch homogen, auch wenn sie dabei genetisch extrem heterozygot ist. Sehr heterozygot sind im Übrigen auch alle vegetativ vermehrten Sorten wie Kartoffeln, Obstgehölze, Hopfen usw. Trotzdem sind sie phänotypisch extrem homogen (weil alle Individuen ja Klone und genetisch identisch sind).

      Viele Grüße
      Robert

  3. Herzlichen Dank für diesen kenntnisreichen und interessanten Beitrag. Im Hinblick auf alte Sorten ist mir kürzlich ein Beitrag von der Universität Hohenheim begegnet „Urgetreide: Wahrscheinlich weltgrößter Feldversuch offenbart Potenzial“ (Link: https://www.uni-hohenheim.de/pressemitteilung?tx_ttnews%5Btt_news%5D=48773&cHash=8c248f6c7e1aa477412c5e9a74dc3ff0) sowie die Auszeichnung der Bäckerei & Konditorei Gnauck beim Sächsischen Umweltpreis aus dem letzten Jahr, die „Jägers norddeutscher ChampagnerRoggen“ und „Pommersche DickkopfWeizen“ für ihr Backwaren einsetzen. Zitat: „Beide Sorten kommen problemlos mit den sandigen Böden der Lausitz zurecht. Sie kommen gut mit trockenen Perioden während des Wachstums aus und vor allem benötigen sie keinen Mineraldünger und kein Pflanzenschutzmittel. Zudem sind sie für den Menschen besser verträglich. Dafür müssen jedoch eine anspruchsvollere Verarbeitung in der Backstube sowie ein höherer Preis (+ 25 % aufgrund eines niedrigeren Ernteertrags) in Kauf genommen werden.“ (Link: https://www.smul.sachsen.de/saechsischer-umweltpreis-5484.html). Sollte es für zeitlich möglich sein, würde ich mich über eine Einordnung dieser Meldungen freuen. Für ihren Blog und ihre Initiative wünsche ich ihnen weiterhin ein gutes Gelingen,

    mit freundlichem Gruß,

    Johannes Eckert

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