Hocheffizienter Artenschutz durch Weidehaltung

Wenn es um Biodiversität und Landwirtschaft geht, liegt der öffentliche Fokus auf Maßnahmen für den Ackerbau. Aber woanders schlummert gewaltiges Potenzial: In der Weidewirtschaft. Doch um Naturschutz wirklich effektiv betreiben zu können, müssen wir verstehen, wie es zu den heutigen Agrarsystemen kam und dass sie aus älteren, stark von Beweidung geprägten Systemen hervorgegangen sind. Und wann die Biodiversität in ihnen am größten war – und warum. Dies hier soll ein kleiner Grundkurs über die enorme Bedeutung der Basislinien im Naturschutz sein, die maßgeblich unsere Leitbilder prägen, und das Mengenverhältnis von Rind und Schaf in der mitteleuropäischen Landschaft im Laufe der Geschichte.

Aus der Vergangenheit lernen – aber aus welcher genau? Basislinien im Naturschutz

Ich sehe immer wieder, dass die Basislinien für den Naturschutz von Vielen in die Zeit der eigenen Kindheit gelegt werden. Da gab es Schwalben auf dem Hof und Kiebitze auf dem Acker (aber nicht mehr auf der Weide). Und Opa ist noch mit den Kühen aufs Feld gefahren. Aber auch, wenn uns damals die Natur noch als heile erschien, waren sehr viele Arten längst weg.

Abbildung 1: Basislinien im Naturschutz

Tatsächlich gibt es zwei wichtige Basislinien. Die erste ist die Aussterbewelle der Megafauna im ausgehenden Pleistozän, die ich hier der Einfachheit halber mit dem Beginn des Neolithikums1 zusammenfallen lasse. Will sagen: Mammuts, Nashörner und Bisone, die wenig zimperlich mit dem Wald waren (damals gab es auch in den Warmzeiten z.B. fast keine Rotbuche – deswegen ist sie so arm an Insektenarten!), wurden durch domestizierte Weide- und Zugtiere ersetzt. Auch, wenn damit viele ökologische Funktionen, besonders hinsichtlich physischer Kraft, wegfielen, blieben Landschaft und Natur dennoch von fast-natürlichen Kräften, nämlich Rind und Pferd gestaltet. Fraß, Tritt, Dung und Zoochorie2 blieben als Schlüsselfaktoren erhalten, auch wenn der Mensch die Tiere lenkte. Das Schaf spielte sowohl von der Kopfzahl als auch Biomasse relativ zum Rind nur eine sehr untergeordnete Rolle (siehe Abbildung 2). Sein Alleinstellungsmerkmal Wolle musste nicht vor Ort produziert werden und konnte gehandelt und transportiert werden, und zwar mit von Rind oder Pferd gezogenen Wagen.

Das Rind war als vorindustrieller Motor von Pflug, Wagen und Mahlstein sowie als Milch-, Fleisch und Talglieferant das All-In-One und sine-qua-non3 einer jeden Bauernstelle und menschlichen Siedlung. Historisch-ökonomisch ist es von überragender, kaum zu überschätzender Bedeutung. Kuhhirten (siehe Abbildung 3) waren weit verbreitet und trieben das Vieh tagsüber auf die Gemeindeweide (Allmende), die auch den Wald, die abgeernteten Felder und Brachzelgen umfasste und einen flächendeckenden Samentransport (Zoochorie) ermöglichte.

Abbildung 2: Das Rind als vorherrschendes Haustier. (aus: aus: Trixl S., Nikulina E.A., Schmölcke U. (2013). Brunnen, Schächte, Teilskelette – Zur archäozoologischen und archäogenetischen Interpretation des kaiserzeitlichen Fundplatzes Frienstedt (Thüringen) und der dortigen großen Rinder. – Beiträge zur Archäozoologie und Prähistorischen Anthropologie 9: 125-140.)
Abbildung 3: Kuhhirtendenkmal in Bochum. (Quelle: Wikipedia)

Auch trockenste Kalk- und Gipshänge und -plateaus waren selbstverständlich eingeschlossen, wurden aber auch, jedoch nicht nur, von den nach den Pestepidemien im Spätmittelalter aufkommenden, über Gemeindegrenzen hinweg wirkenden Schäfereien beweidet. Diese v.a. grundherrlich bestimmte Schafhaltung war auch die Basis einer v.a. in Süddeutschland ausgedehnten Transhumanz4, die auch einen überregionalen Samentransport ermöglichte. Eine noch größere Reichweite war durch den Ochsenhandel gegeben, der die im Hochmittelalter aufkommenden Städte und Handelszentren v.a. in Oberitalien, Süddeutschland, im Rheinland, in den Niederlanden und im Bereich der Hanse mit Mastvieh v.a. aus Ungarn und Jütland versorgte. Dessen Triebwege und Rastweiden harren noch der geobotanischen Erforschung.

Abbildung 4: Rinderweide auf dem Plateau des Eichenbergs um 1915 (Quelle: Poschlod P., Baumann A., Fischer S., Karlík P., Reisch C., Simmel J. (2016). Kultur-und Vegetationsgeschichte der Kalkmagerrasen bei Kallmünz. Tuxenia Beiheft 9-33.)
Abbildung 5: Foto aus Leuschner C., Ellenberg H. (2017). Ecology of Central European non-forest vegetation: coastal to alpine, natural to man-made habitats: vegetation ecology of Central Europe, Volume II. Springer.
Abbildung 6: Ein Oxenweg. (aus: „Der Europäische Oxenweg damals und heute – ein historischer Reiseführer.“ zu finden unter www.oxenweg.net/)

Nach dem 30-jährigen Krieg wurden mit dem Wachstum der Bevölkerung und v.a. der Städte die einst endlosen Weiden allmählich weniger, die Reformen in der Landwirtschaft, besonders das Ende der Dreifelderwirtschaft, und die Industrialisierung brachten die Kühe v. a. im 19. Jahrhundert größtenteils in den Stall. Die Dorfweiden, wie wir sie heute noch in Siebenbürgen finden, wurden in Mähwiesen, Äcker oder auch Forste umgewandelt, Reste auf den trockenen Hängen und Plateaus fielen gänzlich an die Schafe, die Mitte des 19. Jahrhundert einen Wollexport-Boom durchliefen und ein Allzeitmaximum erreichten, welches oft als inkorrekte Basislinie dient.

Wegen der ca. zehnmal größeren Körpermasse war der Impact des Rindes auf die Landschaft pro Kopf viel größer als beim Schaf, auch wenn dieses um 1800 in ca 1,5-fach höherer Kopfzahl vorkam.

Abbildung 7: Wolle war einst ein begehrtes Exportgut, das inzwischen an Bedeutung stark verloren hat.
Abbildung 8: Im Vergleich zum Schaf hat das Rind einen ungleich größeren Einfluss auf die Landschaft.

Die Bedeutung extensiver Weiden für die Biodiversität

Mit der Umwandlung der Dorfweiden trat ein massiver Rückgang der Biodiversität ein. Viele Arten sind heute bei uns sogar (fast) ausgestorben, z.B. Schlangenadler, Triel, Kampfläufer, Doppelschnepfe, Blauracke, Groß- und Zwergtrappe, Steinrötel, Schwarzstirnwürger. Der Wegfall des Dungs und der Dunginsekten, die in den Mägen zahlreicher Vogelarten gefunden wurden, als nie erschöpfende und riesige Nahrungsressource für Vögel, Säugetiere, Reptilien und Amphibien spielte dabei mengenmäßig vielleicht sogar die Hauptrolle.

Abbildung 9: Zahlreiche Arten profitieren vom Dung der Weidetiere.


Viele unserer heute seltensten Arten (nur mal eben einige spontane Einfälle: Angelica palustris, Gladiolus imbricatus, Narcissus pseudonarcissus, Dactylorhiza sambucina, Arcyptera fusca, Gampsocleis glabra, Colias myrmidone) sind plausibel nur als Erbe aus dieser vorindustriellen Zeit zu deuten.

Hier ein passender Tweet dazu von Autor und Filmemacher Jan Haft:

Abbildung 10: Weiß man um die wichtige Rolle von Dung für die Artenvielfalt, liegt auch eine kritische Betrachtung von Antiparasitika nahe.

Leider verpassen wir unseren Weiden heute in unserer Verzweiflung und historischen Unkenntnis ein scheinbar perfektes Mahdregime und mähen (mit Mähbalken oder Mäh-Schafen) alle seltenen, aber nicht beachteten Begleitarten tot. Ein dramatisches Beispiel sind hierfür bedrohte Zikadenarten in Thüringen (mehr dazu vielleicht einmal in einem zukünftigen Text), oder ganz aktuell das, was in einem weiteren Tweet von Jan Haft zu sehen ist:

https://twitter.com/jan_haft/status/1531534448700928000

Zu späte Basislinien führen zu ineffizientem Artenschutz

Der Artenschutz in Agrar- und Weidesystemen orientiert sich heute oft an falschen Basislinien in der Vergangenheit. Ich habe dargelegt, dass die Artenvielfalt auf vorindustriellen Weiden viel größer war als auf den späteren, zumeist gemähten Wiesen, die viele aus ihrer Kindheit kennen.

Wegen inkonsistent gesetzter Basislinien erfahren auch die heute noch existierenden Streuobstwiesen eine Deutung, die zu hinterfragen ist. Vieles (z. B. Straßennamen an Siedlungsrändern) spricht dafür, dass die meisten von Ihnen auf den ehemaligen dorfnahen Viehweiden, den sog. Angern, angepflanzt wurden, nachdem die Viehherden abgeschafft waren. Mithin hatten sie die Biodiversität der alten Viehweiden geerbt, sind aber nach Wegfall der maßgeblichen Biodiversitätsfaktoren Fraß, Tritt und Dung heute längst im Prozess der Verarmung.

Bestes Beispiel sind die beiden heute in ganz Deutschland ausgestorbenen Arten Rotkopf- und Schwarzstirnwürger, die noch bis in die 2. Hälfte des 20. Jh in diesen Lebensräumen gebrütet haben. Für die zahlreichen Initiativen des Streuobstwiesenschutzes würde die Integration von Weidevieh sicherlich eine enorme biotische Bereicherung bringen. Eine Basislinie zu Omas Zeiten, als das Vieh größtenteils längst im Stall war, ist hier zu unambitioniert. Die relevante Basislinie für den heutigen Naturschutz wäre daher am sinnvollsten VOR die durch die reformierte Landwirtschaft bedingte Aussterbewelle zu legen, also an den Beginn des 19. Jahrhunderts.

Artenreiche Weidehaltung zurückbringen – ein Appell

Die charmante Implikation dieser Überlegungen wäre, dass die Hypothese des Verschwindens der großen Graser aus der Landschaft als maßgeblichen Faktor des Biodiversitätsschwundes leicht zu überprüfen sein müsste. Hierfür würde eine simple Wiedereinführung extensiver Beweidung mit Rindern und Pferden genügen, allerdings unter konsequenten Einhaltung bestimmter Kriterien (> 20 ha, keine prophylaktische Entwurmung, alte Rassen, Standweide, ohne Mahd und Kopplung), die den vorindustriellen Artenreichtum wieder herstellen müssten. Und der Clou: ES FUNKTIONIERT, auch wenn manches nicht so gut läuft oder besser gemacht werden könnte und auch, wenn selbst wir Naturschützer mit manchem Anblick einer solchen von uns weitestgehend unkontrollierten Natur Schwierigkeiten haben.

Zwei konkrete, überwältigende Beispiele: Oranienbaumer Heide und Rödelplateau bei Freyburg/Unstrut. Fantastische Zunahmen von bedrohten Vogelarten und Orchideen, nur wenige Jahre nach Einführung einer Ganzjahresweide (Abbildungen 95 und 10).

Abbildung 9: Zunahme von seltenen Vogelarten nach Etablierung einer extensiven Ganzjahresweide mit Rindern und Pferden in der Oranienbaumer Heide bei Dessau.
Abbildung 10: Zunahme von Orchideen auf dem Rödelplateau bei Freyburg/Unstrut nach Einführung einer extensiven Ganzjahresweide mit Pferden (Dank an Martina Köhler).

Hier noch eine Buchempfehlung für eine weitere Vertiefung des Themas:

Fazit

Einen kleinen Teil dieses vorindustriellen Naturreichtums wieder zurückzubringen ist ein gesamtgesellschaftliches Großprojekt, das uns definitiv und nachhaltig aus der Biodiversitätskrise führen kann und für alle einen RIESIGEN Gewinn bringt. Politik, Landwirte, Klima- und Naturschützer müssen hier zusammenarbeiten, um 5% der Nutzfläche umzustellen. Die Landwirte müssen dafür großzügig bezahlt werden, das meiste könnte aber aus Brüssel abgedeckt werden. Etliche Milliarden würden durch abgemilderte Hochwässer in den Auen amortisiert (allein seit 2002 drei Jahrhunderthochwässer mit einer Schadenssumme von ca 50 Mrd !). Die Gesamtkosten für eine solche Beweidung belaufen sich auf wenige Milliarden im Jahr, also sehr wenig im Vergleich zu dem, was wir aktuell ohne viel nachzudenken und ohne ausreichende Evaluierung für Anderes ausgeben.


Schaffen wir das??? Yes, we can!

 

P.S.: Hier natürlich der Schulterschluss zu den Auenweiden:
https://twitter.com/auenatelier/status/1534802186693124098

und zu den wiederzuvernässenden und zu beweideten Niedermooren.
https://twitter.com/auenatelier/status/1534600972609126400

Die Synergismen wären genial. 5% landwirtschaftliche Nutzfläche sind hier verschmerzbar. 

Herbert Nickel
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Einzelnachweise

  1. Epoche der Menschheitsgeschichte, die als Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zu Hirten- und Bauernkulturen definiert wird.
  2. Verbreitung von Pflanzensamen und -früchten durch Tiere
  3. nicht zu ersetzen
  4. bäuerliche Wirtschaftsform, bei der das Vieh von Hirten auf entfernte Sommerweiden (z. B. Almen) gebracht wird
  5. aus: Lorenz A., Schonert A., Henning K., Tischew S. 2021. Der fortschreitende Biodiversitätsverlust ist umkehrbar: Steigerung der Artenvielfalt in nutzungsabhängigen FFH-Lebensräumen durch großflächiges, naturschutz-konformes Management. – Natur und Landschaft 96(2): 74-

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